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Das Israel Syndrom

Text: Fabian Burstein | Fotos: Fabian Burstein

Israel ist ein zerrissenes Land. Das hat zunächst einmal weniger mit einer sozialpsychologischen Metaebene, als vielmehr mit dem geografi schen Umstand zu tun, dass zwei Völker Anspruch auf ein und dasselbe Stück Lebensraum erheben. Das Resultat: Eine auf Karten strichliert eingezeichnete Bruchlinie, die das palästinensisch dominierte Westjordanland und den Gazastreifen vom restlichen Israel separieren. Die gewaltsamen Konsequenzen dieses Territorialstreits sind allseits bekannt. Und so wird ein Israel-Urlauber dermaßen sorgfältig mit partiellen Reisewarnungen eingedeckt, dass einem schon im Vorfeld Angst und Bange wird. Einmal in Tel Aviv angekommen, wollen einem die Einheimischen weismachen, dass alle Sorgen nur einer globalen Hysterie entspringen. Die Wahrheit liegt wie so oft in der Mitte. Denn natürlich wartet nicht an jeder Ecke ein Anschlagskommando der radikalislamischen Hamas. Dass man aber vor jedem Marktplatz, in jedem Einkaufszentrum und an jeder Fast-Food-Lokal-Pforte auf Waffen und Sprengstoff untersucht wird, ist auch nicht ganz alltäglich. Israel dient als Beweis dafür, dass der Begriff „Normalität“ ein dehnbarer ist.

Spätestens nach zwei Tagen sieht man ihn nicht mehr, den mit MG und schusssicherer Weste ausgestatteten Soldaten, der vor einem in der Schlange bei McDonalds steht und einen Hamburger bestellt, während der Lauf der Waffe immer wieder gegen den eigenen Bauch stößt. Von derlei Reizen überflutet, schraubt man die Reizschwelle immer höher und deaktiviert schließlich die Sicherheitseinstellungen im Navigationssystem, um die streng bewachte Grenze zum Westjordanland zu überschreiten. Autos mit grünen Kennzeichen (Palästinenser) dürfen das Westjordanland nicht verlassen. Ihre Fahrer überqueren die Grenze per pedes. Gelbe Kennzeichen (Israelis) werden durchgelassen, sofern der Fahrer eine Sondergenehmigung hat. Einer von ihnen bringt uns nach Betlehem, das mittlerweile durch eine gigantische Mauer abgeschottet wird. Die Population besteht zu 30 Prozent aus Christen, zu 70 Prozent aus Palästinensern. Graffiti auf den Mauern vergleichen Israel mit Nazi-Deutschland. Als überzeugtem Zionisten wird einem schlecht – und dennoch realisiert man, dass Glück und Zufriedenheit ganz sicher nicht in Betlehem zu Hause sind.

„Big Orange“, diese selbstbewusste Eigencharakterisierung der Israelis für ihr Tel Aviv, bringt das ganze Lebensgefühl der Mittelmeer-Metropole auf den Punkt. Knapp 10.000 Kilometer liegen zwischen dem großen Vorbild New York und dem nahöstlichen Pendant – und dennoch hat das Bild der urbanen Soulmates seine Berechtigung. Über die gesamte Küstenseite der Stadt erstreckt sich ein fast schon kitschiger Sandstrand, der abends von Straßenkünstlern und biertrinkenden Goa-Fans bevölkert wird. Homosexuelle können hier jenseits von religiösen Dogmen leben, Araber werden nicht automatisch als Feinde betrachtet, und selbst am Sabbat gibt es eine infrastrukturelle Grundversorgung. Ein historisches Zentrum sucht man, abgesehen vom arabischen Vorort Jaffa, vergeblich. Dafür drückt die omnipräsente Bauhaus-Architektur der ganzen Stadt ihren Stempel auf. Am nördlichen Strandende wurde der gesamte alte Hafen in ein charismatisches Lokalviertel umgestaltet – nur der Security mit der Pistole im Hosenbund erinnert daran, dass die Leichtigkeit des Seins auch in Tel Aviv manchmal Pause macht …

Tel Aviv hat natürlich eine lebendige Markt-Tradition mit einem Früchteangebot, das der durchschnittliche Europäer bestenfalls aus dem Fernsehen kennt. Der Hakarmel-Markt ist aufgrund seiner Größe und Vielfalt die erste Anlaufstation für leidenschaftliche Marktgeher. Steht man dann vor den Zugängen des Areals und beobachtet den dicht gedrängten Menschenpulk, der sich durch die schmalen Wege wälzt, denkt jeder gut informierte Tourist ans Umdrehen.

„Menschenansammlungen in Märkten, Stadtbusse, Restaurants, Cafés, Diskotheken u. a. wurden in der Vergangenheit Ziele von schweren Terroranschlägen; Jerusalem, Tel Aviv ( … ) waren dabei besonders betroffen“, heißt es etwa auf der Webseite des Außenministeriums. Man geht dann trotzdem hinein, vorbei an den Kameras, die unauffällig die Eingänge observieren, und genießt einfach das Flair. Zwischendurch überlegt man, wie viele Sicherheitskräfte wohl in diesem Augenblick den Markt überwachen. Am Ende so eines Besuches hätte man sich einmal mehr gewünscht, nicht von der hysterischen Israel-Wahrnehmung in der Heimat infiltriert zu sein. Die Überwindung der gewaltbesetzten Klischees ist generell eines der zentralsten Phänomene vor Ort –es ist so präsent, dass man es fast schon als Israel-Syndrom bezeichnen könnte.

Jerusalem ist wahrscheinlich einer der verrücktesten Orte der Welt – ein gigantischer religiöser Melting Pot, in dem die Eiferer fest das Ruder in der Hand haben. Wer am Sabbat Hand in Hand das ultraorthodoxe Viertel Mea Schearim durchquert, bekommt mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit zu hören, dass seine Freundin eine Hure sei. Und nähert man sich zur Gebetsstunde der Al-Aqsa-Moschee am Tempelberg, spürt man unweigerlich eine latente Aggression, die einem als Nicht-Moslem entgegenschlägt. Eigentlich ist es ein Wunder, wie friedlich und eingespielt der Alltag in Jerusalem dennoch abläuft. Menschen mit einer gewissen spirituellen Disposition sollten allerdings vorsichtig sein: Die Stadt ist Namensgeber für eine spezielle Form der Psychose (diesmal das „Jersualem-Syndrom“), bei der die Betroffenen denken, sie seien eine heilige Person aus der Bibel …

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