Eigentlich kann es nicht funktionieren: Der Telenova-Plot, die Musik, der Tanz, die Klischees und der Kitsch. Trotzdem ist Emilia Pérez einer der originellsten und unterhaltsamsten Filme dieses Kinojahres und neuerdings sogar Frankreichs Kandidat im Rennen um den Oscar für die Beste internationale Produktion. Wie das? Die Frage klärt sich, sobald man im Kraftzentrum der Titelfigur gefangen ist. Denn Jacques Audiard hat sein emotional aufgeladenes, musikalisches Melodram über Gewalt und Geschlechterfragen in Mexiko um eine Heldin konstruiert, die mit ihrer Resilienz und entwaffnenden Herzlichkeit auch noch den letzten ungläubigen Zuschauer in die Knie zwingt, der je am Gelingen dieser kühnen Prämisse gezweifelt hat.
Emilias Auftritt lässt jedoch auf sich warten. Zunächst rückt der Regisseur, der auch am Drehbuch beteiligt war, die mexi-kanische Anwältin Rita Moro Castro (Zoe Saldaña) in den Mittelpunkt. Mit ihrem Ehrgeiz und Talent für aussichtslose Fälle hat sie sich in eine große Kanzlei hochgearbeitet, die insbesondere unter den einheimischen Mafiosis und Gangstern als sichere Anlaufstelle gilt. Richtig wohl fühlt sich Rita in ihrem viel zu schlecht bezahlten Job nicht, als ihr ein besonderes lukrativer Auftrag angeboten wird: Der skrupellose Kartellchef Juan „Manitas“ Del Monte (Karla Sofía Gascón) will aus dem Drogengeschäft aussteigen und braucht Hilfe bei seinem spektakulären Vorhaben. Mittels einer Geschlechtsumwandlung will ihr Klient nicht nur dem Gesetz entkommen, sondern ein völlig neues Leben als Frau beginnen. Seine Familie soll in der Schweiz in Sicherheit gebracht werden, während Manitas sich eine neue Identität als Emilia Pérez zulegt.
Vier Jahre später reffen sich Rita und Emilia in London wieder. Letztere vermisst ihre zurückgelassene Frau Jessi (Selina Gomez) und die beiden gemeinsamen Kinder, ein neuer Plan muss her. Rita soll dafür sorgen, dass die Familie wieder in die alte Heimat übersiedelt und zu ihrer angeblich entfremdeten Tante in eine stattliche Villa zieht. Anschließend engagiert Emilia die Anwältin gleich noch für ihr nächstes ehrgeiziges Projekt. Sie hat eine Organisation gegründet, die Tausende von Mexikanern dabei unterstützt, nach den Überresten ihrer von den Drogenkartellen ermordeten Angehörigen zu suchen. Immerhin weiß sie, wo die Leichen begraben sind, im wörtlichen Sinn.
Man muss inhaltlich so weit ausholen, um das feingliedrige Konzept hinter der kuriosen Versuchsanordnung zu verstehen. Audiard will in seinem „Trans-Gangster“-Musical Geschlechterstereotypen untersuchen, insbesondere die Wechselwirkung von einer männlichen hin zu einer weibliche Perspektive. „Den eigenen Körper zu verändern, bedeutet, die Gesellschaft zu verändern“, singt Rita einmal. Was zunächst als Opern-Aufführung geplant war, nahm bald immer deutlichere Züge als filmisches Projekt an. Schließlich engagierte der Regisseur das französische Songwriter-Duo Clément Ducol und Camille Dalmais, die mit einer Mischung aus Sprechgesang, Powerballaden im Chanson-Stil und kraftvollen Hip-Hop-Einlagen einen sich langsam steigernden Schwung in die Handlung bringen. Viele der Songs und Tanznummern erinnern unweigerlich an den Sound von Lin-Manuel Mirandas Hit-Musicals Hamilton und In The Heights.
Audiard selbst, der seit den 2000er-Jahren mit Filmen wie Der wilde Schlag meines Herzens oder dem Gefängnisthriller Ein Prophet immer wieder das französische Kino aufrüttelt, war, wie er im Gespräch nachdrücklich betont, nie an einem Musik-film interessiert. Nach seinem englischsprachigen Debüt mit dem Neo-Western The Sisters Brothers (2018) ist dies nun sein erster Spielfilm auf Spanisch und vielleicht die bisher schönste Abwegigkeit in seinem Schaffen insgesamt.
Herr Audiard, sind Sie privat ein Musical-Fan?
Auf keinen Fall. Ich kann dem Genre wenig abgewinnen und kenne mich auch überhaupt nicht aus. Ich mag wirklich nur einzelne Musicals, zum Beispiel von Bob Fosse oder Jacques Demy, und schon gar nicht die Klassiker aus den 1930er- und 1940er-Jahren, sondern eher die aus Hollywood nach dem Zweiten Weltkrieg.
Trotzdem haben Sie ein Musical gedreht. Warum?
Als ich 2019 mit der Arbeit an dem Projekt anfing, hatte ich eigentlich eine Oper im Sinn, die auf einem Libretto basierte. Sie müssen wissen, ich liebe die Oper, obwohl ich insgesamt nicht viel Ahnung von Kultur habe. Schon als ich meinen zweiten Film Das Leben: Eine Lüge Mitte der neunziger Jahre drehte, wollte ich es eigentlich so machen wie Peter Brook mit Carmen oder der Dreigroschenoper. Damals hat es nicht geklappt. Aber die Beziehung zwischen Oper und bewegten Bildern hat mich schon immer fasziniert.
Wie groß war dann diesmal die Herausforderung, das Musikalische in die Geschichte und in das Milieu zu integrieren, in dem der Film spielt?
Das jeweilige Genre in die Story einzuarbeiten, ist immer mein Ansatz, das ist immer mein Ziel. Aber diesmal hatte ich mit bestimmten Einschränkungen zu kämpfen, einerseits durch die Songs, aber auch durch die Choreografie. Ich konnte bestimmte Szenen nicht einfach ändern wie sonst. Ich habe noch nie mit solchen Vorgaben gearbeitet. Darauf musste ich mich erst einstellen. Es war ein komplizierter Prozess.
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EMILIA PÉREZ
Musical/Komödie, Frankreich/Mexiko/USA 2024 — Regie: Jacques Audiard
Drehbuch: Jacques Audiard, Thomas Bidegain, Nicolas Livecchi; Kamera: Paul Guilhaume; Schnitt: Juliette Welfling; Production Design: Emmanuelle Duplay; Musik Camille, Clément Ducol
Mit: Zoe Saldaña, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez, Édgar Ramírez, Adriana Paz, Mark Ivanir, Eduardo Aladro, Emiliano Hasan, James Gerard, Eric Geynes, Agathe Bokja, Chun-Ting Lin
Verleih: Filmladen, 130 Min.
Kinostart: 21. November