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Das leben zwischen den Bildern

Text: Jörg Becker | Fotos: Österreichisches Filmmuseum

„Ich bin eine Legende!“ Jean-Luc Godard (1930 – 2022)

À bout de souffle (1960)

Jean-Luc Godard hat das Kino im 20. Jahrhundert geprägt wie wenige andere Filmemacher. Eine umfangreiche Würdigung von Godards Werkphase zwischen 1951 und 1967.
Die erste Welle – Filme aus der frühen Werkphase Jean-Luc Godards, mitunter als „romantische Phase“, in ihren späteren Teilen auch als „soziologisches“ beziehungsweise „essayistisches Œuvre“ bezeichnet – treibt bis an den Vorabend des Pariser Mai 68, als Godard ein Ende des Kinos erklärt hatte. Er gilt als einziger Filmemacher, der seine Arbeit durch die Ereignisse von 1968 in Frage gestellt sah.

Am Anfang wusste Jean-Luc Godard, er wollte einen Film über den Tod drehen, den Todestrieb des Helden. Godards Spielfilmdebüt, À bout de souffle, gilt als ein Film, der mit einem Mal so frei mit seinen Elementen umging, so souverän bis dahin herrschende Regeln brach, dass sich bis heute an ihm das Kino als ein Ganzes studieren lässt. Alles wurde binnen vier Wochen aus der Hand gedreht, vorwiegend Außenszenen, ohne Drehbuch. Später, in seiner „Einführung in die wahre Geschichte des Kinos“ [Paris, 1980; dt.: 1981] erklärte Godard: „Ich habe meine Filme eher so gemacht wie zwei, drei Jazzmusiker arbeiten: Man gibt sich ein Thema, man spielt, und dann organisiert es sich von selbst. (…) Nicht daß Bleistift und Papier an sich schlecht wären. Was schlecht ist am Kino, so wie es gemacht wird, ist, daß sie immer zu einer bestimmten Zeit gebraucht werden, nämlich vorher. Ein bißchen vorher, ein bißchen nachher – das fände ich gut, aber nicht immerzu.“ Aufgenommen wurde das Leben, „wo es ist“ (Godard), ohne Kunstlicht, mit hochempfindlichem Ilford-HP 5-Filmmaterial; Jump-Cuts (aufgrund von Kürzungszwängen), bewusst falsche, d.h. gegen die Hollywood-Dramaturgie geschnittene Anschlüsse, auch Achsensprünge haben die ohnehin elliptische Erzählweise des Films radikalisiert – rückblickend sprach Godard, trotz Gangster-Sujet, von einem Dokumentarfilm über Jean Seberg und Belmondo und sah À bout de souffle auch als einen „Film ohne Regeln oder dessen einzige Regel hieß: Die Regeln sind falsch oder werden falsch angewendet.“ (1980). „Wo alle anderen auf Kontinuität aus sind und auf Flüssigkeit, zerstückelt er – auch in der Hoffnung, daß, wenn zwei verschiedene Dinge aufeinanderstoßen, das von selbst ein kleines Drama mit Pathos ergibt. Er macht Montagekino – wenn man es möglichst weit versteht und an Zerlegen denkt und Komposition. Die Abfolge der Einstellungen ist für ihn kein Mittel zur Illusionierung.“ (Frieda Grafe, 1981)

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À bout de souffle (1960)

Die intendierte Hommage, die À bout de souffle an den Film noir darstellen sollte, zeigt sich bereits in der Widmung an die „Monogram Pictures“, jene Produktionsgesellschaft, der das Genre bedeutende Werke zu verdanken hat. Godard testet und reflektiert die Erzählweisen dieses Gangsterfilmtypus, inkludiert auch Versuche zur Theatralität des Kinos, zum Kammerspiel, zu denken an die Szene in dem kleinen Hotelzimmer, in dem der Gangster Michel (Jean-Paul Belmondo) und seine amerikanische Freundin Patricia (Jean Seberg) über die Aussichten ihrer Beziehung reden. „Ein Licht wie in Patricias Hotelzimmer hatte man bisher im Film überhaupt noch nicht gesehen“ (Martin Schaub, 1979) – hier wird der Zuschauer zum Betrachter eines Kammerspiels, das ihn durch die „vierte Wand“ in die Szene blicken lässt, aber im nächsten Moment schon, über eine verschachtelte Montage näher rückend, involviert.

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Une femme mariée (1964)

Mit Une femme est une femme (1961) folgt Godards erster Farbfilm, zugleich seine Eroberung von Direktton und CinemaScope-Format: zehn heiter-turbulente Szenen einer jungen Ehe, ein schmissig unbekümmertes Musical, laut Godard der Versuch eines „neorealistischen Musicals“, quasi Gene Kelly/Stanley Donen im Alltags-Paris, in der eigenen Wohnung, und wenn Anna Karina aus dem Fenster der gemeinsamen Wohnung im oberen Stockwerk hinausspricht, steht unten auf der Straße Jean-Claude Brialy, der antwortet – oder ist es Jean-Paul Belmondo, der im Film Alfred Lubitsch heißt. Weil Lubitschs Film Design for Living, 1933, überhaupt die Libertinage bei Lubitsch im Entwurf des Films aufzufinden sind? Man muss alles in einem Film unterbringen, lautet eines der zahllosen geflügelten Worte Godards (Mai 1967). Ein anderes: einem Ausdruck muss ein Eindruck vorangehen – an Geläufigkeit unübertroffen: aus Le petit soldat, 1960, der Satz vom Film als Wahrheit, 24 mal pro Sekunde. Seine Filme jener Jahre sind wesentlich Montage, das Vibrieren der Geschichte des Kinos, wechselnde Mischungen neuer, verblüffender Synchronitäten, gewonnen aus der Kraft einer Sichtweise, die, etwa in Les Carabiniers (1963), einen Kriegsfilm radikal dekonstruiert, oder eine dekonstruierte Welt wieder zusammensetzt. „Hinter den Erzählungen seiner Filme, die den Seelenzustand seiner Figuren mimen, läuft immer ein mechanischer und asymmetrischer Film ab, um zum reinen Vergnügen eine von der Technik zerbrochene und von einem Braque, aber einem gemeinen, wieder zusammengefügte Realität neu zu schaffen.“ (Pier Paolo Pasolini)

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Vivre sa vie (1962)

Mit Vivre sa vie (Die Geschichte der Nana S.; 1962), der den Weg der Verkäuferin Nana in die Prostitution bis zu ihrem Tod verfolgt, demonstriert Godard einen Wandel seiner Ästhetik hin zur präzisen Konstruktion und zu langen Einstellungen, die den Charakter von Blöcken beziehungsweise Studien besitzen, aufgenommen mit Direktton. Gegenüber der Montage präferiert er hier die Plan-Sequenz, gibt seinem Film eine dokumentarische Einstellungsethik. „Ich habe versucht, von außen das Innere von jemandem zu filmen“, erklärte Godard, lässt die Handlung von „Fremdtexten“ kommentieren, zum Beispiel Auszügen aus Edgar Allen Poes „The Oval Portrait“, dem Aufsatz einer Achtjährigen oder der Erzählung eines Diebstahls, so dass man von seinem ersten filmischen Essay sprechen kann, ebenso von einem Dis-tanzierungseffekt im Brechtschen Sinn.

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Made in U.S.A. (1966)

„Längst spiegeln die Bilder nicht mehr wider. Was durchaus nicht heißt, daß keine Wahrheit in ihnen steckte“, schrieb Frieda Grafe anlässlich der Reihe des „Farbfilmfests“ der Berlinale 1988, in die sie Godards Made in U.S.A., in Eastman Color und Techniscope, aufnahm. „Sie steckt in Kinobildern sogar lebendiger drin als je zuvor in allen anderen. / Aus richtigen Bildern sind bloße Bilder geworden, juste une image. Autonome Bilder in willkürlichen, unrealistischen Farben und nicht bloß Abbilder. Zeitkolorit direkt. / Godard beschränkt seine Palette auf Grundfarben, denn auch im Farbfilm muß man es nicht nehmen wie es kommt. Mischfarben ergeben sich manchmal im Auge des Zuschauers, wenn Karina ein blau-grün gestreiftes Kleid trägt, das Indigo wird bei Bewegung. / Ansonsten stoßen lebhafte Farben hart aufeinander. Oft in Streifen. / Ich bin, sagt Godard, wie andere hommes de lettres, ein peintre en lettres, ein Schriftmaler wie andere Schriftsteller sind. Einer, der Texte malt, der schreibt mit anderen Mitteln, der Bildzeichen komponiert, der mit Farbe so wählerisch umgeht wie Literaten es mit Wörtern tun sollten.“ 1966 beginnt er Made in U.S.A. mit einer Widmung an zwei US-Genre-Autoren, Nicholas Ray und Sam Fuller. „In memoriam small movies“ wird er später seinem Film Détective (1984) vorausschicken. Immer schon stellte er Verbindungen zum Film noir her, sichtbar etwa in der atmosphärischen Kontamination von Alphaville (1965), dem Film, der ursprünglich „Tarzan gegen IBM“ hieß. Mit den antiquierten Eigenschaften eines traditionellen Helden fordert Eddie Constantine als Lemmy Caution, eine Legende trivialen Action-Kinos, die Diktatur des Großrechners Alpha 60 heraus, bringt dabei Erleuchtung in Fragen der Linguistik und von Sigmund Freuds Begriff von der Übertragungsliebe. Godard gibt seinen Filmen immer eine Form, die denkt und stets von neuem zu lesen ist. „Mit jedem neuen Film, den er macht(e)“, so hat es Klaus Theweleit 2009 anlässlich der Histoire(s) du cinéma ausgedrückt, „schreibt er einen weiteren Film-Essay; pendelnd zwischen den Polen Poesie und Kritik, Imagination und Wahrnehmung, einebnend die Differenz von Fiktion und Realität“.

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Le Mépris (1963)

Es erscheint wie der Anfang von Kino überhaupt, wenn zu Beginn von Le Mépris (1963) die schwere Mitchell-Kamera von Raoul Coutard auf Schienen zu der Musik von Georges Delerue aus der Raumtiefe auf den Betrachter zufährt. „Das Kino ersetzt unseren Blick, es setzt eine Welt im Einklang mit unseren Wünschen, sagt André Bazin“, spricht die Stimme des Autors hier unter die Bilder – „Le Mépris ist die Geschichte dieser Welt.“ Um die sechziger Jahre zu verstehen, empfahl der Kritiker Serge Daney, müsse man Le Mépris, gedreht in Anlehnung an Alberto Moravias Romans „Il disprezzo“ („Die Verachtung“), womöglich Godards schönster, in jedem Fall sein pathetischster Film, sehen und wieder sehen: ein Blick auf die Gegenwart zwischen den Zeiten. Gegen Ende dieses Films tötet Godard kurzerhand die zwei Hauptbestandteile des geläufigen kommerziellen Kinos, seinen Star und den amerikanischen Produzenten des Films! Godard, hier auch in der Rolle des Regie-Assistenten zu sehen, bleibt neben dem eigentlichen Meister des Handwerks zurück, an der Seite Fritz Langs, des abgeklärten emigrierten Regisseurs von alteuropäischer Bildung, um mit ihm nach dem Unfalltod des tyrannischen (und gänzlich respektlosen) Amerikaners (Jack Palance) und der Frau des Drehbuchautors, zugleich der Hauptdarstellerin (dem damaligen Star: Brigitte Bardot), einen Film über Homers „Odyssee“ zu Ende zu bringen. Als der Produzent Carlo Ponti Godards fertigen Film sah, „beschwerte er sich, er bekäme fürs Geld und für die Reputation der Bardot nicht genug von ihr zu sehen. Godard lieferte nach, was der Produzent wollte. Und alle waren zufrieden. Die meisten Filme, sagte Godard, geben Auskunft darüber, nicht wie man zu einer Zeit lebte, sondern was man mochte.“ (Frieda Grafe, 1980)

Sein Film sei „unter seltsamen Umständen“ entstanden, erklärte Godard in seiner „Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos“ (nach Protokollen von ihm abgehaltener Filmkurse in Montréal 1978): „Es war eine Art Wette. Die Filmdirektion von Venedig hatte im Juli bei mir angefragt, ob ich für das Festival im August einen Film hätte. Ich hatte gesagt: Wenn Sie ihn bestimmt zeigen, mache ich Ihnen einen. Wir haben ihn dann in einem Monat gedreht, (…). Sobald sich die Gelegenheit bot, einen Film zu machen – dabei hatte ich gerade erst Bande à part abgeschlossen [Premiere: 5. Juli 1964, Berlinale Filmfestspiele] -, stürzte ich mich auf die nächste Gelegenheit. Das muß wohl unbewußt die Angst gewesen sein, ohne Kino nicht leben zu können.“ Godard hatte eine „Röntgenaufnahme“ der verheirateten Frau vor Augen, eine Schilderung der „condition feminine“ der Gegenwart, was den Film auf die soziologische Ebene seiner Folgefilme Masculin-feminin und Deux ou trois choses que je sais d’elle (Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß, beide 1966) hebt. In der vorletzten Szene sehen Charlotte und ihr Geliebter den KZ-Film Nuit et brouillard (Nacht und Nebel, 1955) von Alain Resnais im Kino. Godard beschrieb Une femme mariée nach Erscheinen als einen Film, in dem Subjekte wie Objekte behandelt würden, Fahrten mit wechselnden Taxis und Interviews aufeinander folgten, das Spektakel des Lebens mit seiner Analyse vermischt sei, „kurz, einen Film, in dem sich das Kino frei und glücklich darüber, nur das zu sein, was es ist, entfaltet“.

Der emphatische Begriff eines „neuen Blicks auf die Welt“ liegt nicht fern, ebenso wenig das Ideal frühromantischer Allverbindung der Dinge, das in Godard seinen cineastischen Repräsentanten gefunden hatte. Der „Wald der Symbole“, Roland Barthes’ semiologische Betrachtung hatte den Film erreicht und traf in dem Filmemacher auf einen intellektuellen Empfänger aller modernen Oberflächenerscheinungen des kapitalistischen Wesens, der visuelle wie sprachlich-akustische Ready-mades montierte, so dass von Werbeflächen, Popillustrationen und Lifestyle-Titeln die Hauptfigur Charlotte (Macha Méril) wie von einem Netz umfangen wird. Die Sprache der Warenwelt nimmt in den „Arctic Signscapes of Une femme mariée“ (Bill Krohn, 2009) eine naturalisierte Gestalt an, bar aller dramatisch-deskriptiven Verknüpfung nach konventionellen Steigerungsmustern, vielmehr dramaturgisch plan und eben, in einer systematisch-tabellarischen Anordnung, in der jede Form eine Art zu sehen und zu sprechen reflektiert, welche durch Slogans und Schlagzeilen, Sätze und Redebruchstücke die Haltung einer Klasse, eines Genres, einer Konsumentenschicht, eines Charakters bezeichnen kann. Avanciert ist der Umgang des „Sprachspielers“ Godard, der sein Material permanent zerlegt und rekombiniert, mit Worten als Dingen – „PASSAGE“ unterteilt er zum Beispiel in „PAS“ und „SAGE“, „DANGER“ ist dekomponiert zu „ANGE“, „CONCERNE“ zu „CON“, „AMER“ während einer Fotosession im Schwimmbad zu „AME“ und „MER“. Une femme mariée entstand in Rekordgeschwindigkeit, aus einer Wechselwirkung zwischen Instinkt und Reflexion, seine Einstellungen bestehen primär aus Totalen und Detailaufnahmen, kalligrafisch im Stil der zeitgenössischen Modefoto-Ästhetik eines Richard Avedon, mit Kompositionen von Körperausschnitten vor weißem Hintergrund, mit intimen Gesten und betont alltäglicher Off-Stimmen-Poesie: 24 Stunden im Leben einer verheirateten Frau zwischen ihrem Liebhaber und ihrem Ehemann. Einführend eine Interviewtechnik, die Godard, lehrstückhaft dialektisch, an seinen Darstellern erprobte und in den Folgejahren fortsetzte – ihnen bei ihrer Konzentration auf der Suche nach der richtigen Antwort ins Off ihrer Rolle zu folgen, etwa auf eine Frage wie: „Was ist ein Schauspieler?“, die Physiognomie des Denkens aufzunehmen.

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Pierrot le fou (1965)

Auch Pierrot le fou (1965) zitiert Malerei, Comics, Reklame und Texte und kombiniert sie untereinander, nutzt die Filmeinstellung als Oberfläche. Pierrot (Jean-Paul Belmondo) – er ist die eine Seite einer Doppelexistenz, der Träumer, der Verrückte, ein romantischer Abenteurer, während sein Double Ferdinand den vernünftigen und kultivierten Intellektuellen verkörpert, der aus literarisch-kontemplativer Haltung heraus sein Leben ordnet. In der Mitte der 1960er Jahre stellt Pierrot le fou für das Kino wie für Godard einen (weiteren) Neubeginn dar. Godard war auf ein Buch von Elie Faure über den Maler Velázquez gestoßen, und er lässt seinen Helden – als Ferdinand – zu Beginn daraus eine Stelle vorlesen, die davon handelt, dass der Maler gegen Ende seiner Karriere die Dinge „zwischen den Dingen“ gemalt habe. Das Kino sollte so sein, das Dazwischen zeigen, so wie der Zuschauer der Filmprojektion auf die Kinoleinwand mit einer Projektion aus dem eigenen Kopf heraus begegne. Godard hat die Musik und die Malerei, und zwischen die Bilder setzt er Worte – „schlag nach bei Hemingway, Faulkner, Gide und nimm von denen noch Sätze“, sagt er sich beziehungsweise seinem Assistenten. Er zitiert Bilder ebenso wie Worte, er „organisiert“ Zitate. Pierrot ist für Godard das Leben in CinemaScope und in den Grundfarben.

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Le petit soldat (1963)

Wenn Godard in einer wenige Minuten langen Einstellung seines 1966 gedrehten Films 2 ou 3 choses que je sais d’elle (Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß) die Kamera in einem Pariser Restaurant sich einer vollen Tasse Kaffee von oben nähern lässt, groß, bis die Leinwand schwarz wird, den Blick zur Gänze auf die Oberfläche der Wolkengebilde aus Bläschen gerichtet, die anfangs leicht auseinanderdriften, sich darauf ringförmig um das Zentrum gruppieren, sich dann wieder voneinander lösen, neu formieren, so kommt es dem Betrachter vor, der Film experimentierte an etwas viel Bedeutenderem, Tiefgründigerem, als es auf den ersten Blick erschien, als erschlösse er sich ganz andere Dimensionen als jene, die wir gewohnt sind, mit Spielfilmhandlung zu verbinden: Sphärenmusik oder die Bewegung der Moleküle, ein Blick ins All, auf Konstellationen ferner Galaxien, hin zu den Grenzen unserer Vorstellungskraft – schwer zu sagen, was da auf einmal das forschende Auge fasziniert und für einen Tiefenmoment reiner, ungeteilter Anschauung bei größter Gedankenöffnung die Aufmerksamkeit aus Handlung und Gegenwartskontext saugt. Unter der Szene die flüsternde Stimme des Autors: „‘Where does it begin?… Where does what begin? God created the heavens and the earth. Of course … but that’s a bit simple, too easy. One should be able to say more… Say that the limits of my language are those of my world. That as I speak, I limit the world, I end it… and when logical and mysterious death comes to abolish this limit… and there will be no more questions, no more answers… everything will be amorphous.‘ The identification of ‘the limits of my language’ with ‘those of my world’ is one of several allusions to Ludwig Wittgenstein’s Tractatus Logico-Philosophicus in this film (…).“ (Robert MacLean, „Opening the Private Eye“, in: „Sight and Sound“, XLVII, 1, 1977/78). 2 ou 3 choses que je sais d’elle ist ein Spielfilm nach einer Enquête um die Neuordnung der Pariser Region: „Das moderne Leben zu beschreiben, besteht für mich nicht darin, wie für gewisse Zeitungen, die Gadgets und das Wirtschaftswachstum zu beschreiben, sondern ich beobachte die Mutationen. Um es genau zu sagen, ich lasse den Zuschauer an der Willkürlichkeit meiner Wahl teilnehmen und an der Erforschung allgemeiner Regeln, die eine besondere Wahl rechtfertigen. (…)Man kann alles in einem Film unterbringen.“ (Godard, Mai 1967)

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Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution (1965)

Ein Mann mit Vergangenheit, Lemmy Caution, kommt mit seinem Ford Galaxie an in Alphaville, einer Stadt, in der ein Totalitarismus des Gegenwärtigen herrscht – die Diktatur des Großrechners Alpha 60. Lemmy hat eine Mission, einen Auftrag: Er will die Schaltzentrale Alphavilles zerstören und die Menschheit retten. Schließlich gelingt es ihm, der gesichtslosen Diktatoreninstanz ein Rätsel zu stellen, an dessen Lösung, nämlich der Selbsterkenntnis der eigenen Widersprüchlichkeit, das herrschende Megahirn kollabieren wird. Eddie Constantine, Serienheld der Lemmy-Caution-Abenteuer der fünfziger Jahre, wird als Genrefigur des klassischen Private Eye eingesetzt. Alles Fiktive ist in Alphaville auf dokumentarische Weise behandelt, die dargestellte Zukunftswelt gestaltet sich in Bildern des wirklichen Paris. „Obwohl ein Science Fiction-Film, wirkt Alphaville wie ein Film noir. Jedes aufscheinende Licht kann eine Sternschnuppe sein.“ (Harun Farocki, 1998) Gegenwart sei die Form allen Lebens, verheißt der Großrechnern, alles sei gesagt – zumindest solange die Worte ihre Bedeutung oder Bedeutungen ihre Worte nicht änderten; der Computer betreibt eine Formalisierung der Sprache, in der ein Einfluss der Zeit auf die Bedeutung ausscheidet. Subjektive Ausdrucksformen – Begriffe der Poesie und der Liebe, Träume und Romantik, Ausbrüche willkürlicher Gewalt – gehören ohnehin zum verbotenen Vokabular Alphavilles. Über einem narrativ vertrauten, genremäßig eingeschliffenen Plot weitet sich ein sprach- und technikphilosophischer Horizont. Fremd wirkt die dokumentarische Qualität der Kameramitfahrten und –verfolgungen aufgrund der Vieldeutigkeit der aufgefangenen Spiegelungen. Wenn Raoul Coutard, Godards Kameramann seit À bout de souffle, Caution/Constantine durch die Drehtür des Hotels folgt und parallel zum gläsernen Aufzug mitfährt, nimmt er die Lichtbrechungen des Ortes auf, gleichsam „Traumbeleuchtung zur Traumtheorie der Surrealisten“ (Klaus Theweleit, 2003). Diese zufälligen Ergebnisse des Location-Lichts sind Funde, die der Erzählung eine unkontrollierte Dimension geben.

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Weekend (1967)

Mit seinem apokalyptischen Week End (Weekend, 1967) gelangte Godard an einen Wendepunkt. Der Film, in dem sich die grelle Aggressivität von Pop Art und Jugendbewegung neben dem Konsumismus der Freizeitgesellschaft ausstellt, ist ins Kollektivgedächtnis des Kinos eingegangen mit dem bis dahin längsten Travelling der Filmgeschichte – der über siebenminütigen Parallelfahrt entlang eines Autostaus. Der Nachspann des Films verkündet: „Fin de cinéma“.

(Der Text enstand anlässlich einer Godard-Schau im Österreichischen Filmmuseum im Jahr 2015 und war erstmals in FAQ No. 31 zu lesen). 


Buchtipp:
Bert Rebhandl
Jean-Luc Godard – Der permanente Revolutionär.
Paul Zsolnay Verlag, Wien.
288 Seiten, € 25,70

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| | Text: Jörg Becker | Fotos: Österreichisches Filmmuseum
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