Betritt man das Penthouse-artige Verlagsbüro in der Wiener Innenstadt, würde man nicht auf den ersten Blick vermuten, dass hier ein ehemaliger „Revoluzzer“ eine leitende Position inne hat. Gottfried Distl ist Chefredakteur des Kino- und Entertainment-Magazins „M“ und (nicht nur) als solcher seit vielen Jahren fest in der filmpublizistischen Szene des Landes verankert. Was viele nicht oder nicht so genau wissen, dass er – zusammen mit seiner Langzeit-Lebenspartnerin Andrea Dee zur avantgardistischen Speerspitze der Wiener Musik-, Literatur- und Performance-Szene gehörte, und das zu einer Zeit, als das künstlerische Leben in Wien einigermaßen darnieder lag. „Begonnen haben wir Mitte der Siebziger Jahre“, erzählt Distl, dessen überaus freundliche und gelassene Ausstrahlung so gar nicht zu dem Bürgerschreck-Image passen will, das er einst wohl kultivierte und mit dem er in gewisser Weise bis zum heutigen Tag liebäugelt. „Da war in Wien tote Hose. Nichts ging mehr, und schon gar nicht auf dem Sektor der Musik. Es gab keine Lokale, nichts, und die paar relevanten Bands kann man im nachhinein an einer Hand abzählen“, erinnert er sich. Novaks Kapelle vielleicht (deren Tonträger dringend einer Wiederveröffentlichung harren)? „Ja, die waren toll, aber daneben und darunter gab es nicht viel. Es war alles eingeschlafen.“
Für Distl und Dee, Jahrgang 1954 und 1957, war das Dilemma, wie für viele andere ihrer Generation, dass sie beide „ zu spät“ geboren wurden für das große Jahr der Revolution 1968, das ja, wie man weiß, in Österreich auch nicht gerade enthusiastisch zelebriert wurde, sieht man von kleineren Aufregungen wie der so genannten „Uni-Ferkelei“ einmal ab. Dabei hatte das Land doch zuvor eine fulminante avantgardistische Tradition, im Film (Peter Kubelka, Kurt Kren), in der Literatur (Artmann, Rühm, Bayer) und erst recht in der Kunst, wenn man allein nur an den Wiener Aktionismus denkt. „Viele gute Leute sind damals weggegangen oder waren tot.“ In der Tat: Konrad Bayer nahm sich 1964, mit 32 Jahren das Leben, Rudolf Schwarzkogler stürzte 1969, mit 29, unter bis heute ungeklärten Umständen aus dem Fenster. Dee und Distl, die beide Philosophie studierten, einander aber – ein Klassiker der Siebziger-Jahre-Beziehungskultur – in Hanno Pöschls Kleinem Café am Franziskanerplatz kennen lernten, wollten dem Stillstand jedenfalls nicht tatenlos zusehen und ihn schon gar nicht hinnehmen. Distl hatte experimentelle Texte in der Literaturzeitschrift „Protokolle“ veröffentlicht, Andrea Dee hatte mit einigen künstlerischen Aktionen auf sich aufmerksam gemacht.
Meanwhile, somewhere else
Man schrieb das Jahr 1977, als sensationelle Nachrichten aus dem Vereinigten Königreich kamen, wo man sich gerade anschickte, das Silberjubiläum von Elizabeth II. zu begehen. Die Musikbranche war in heller Aufregung. Plötzlich gab es da ein paar Rotzlöffel, die, mit mehr Wut als musikalischem Können, der Queen ihre Verachtung entgegenschleuderten: „God save the queen / The fascist regime / They made you a moron / Potential H-bomb / God save the queen / She ain‘t no human being / There is no future / In England‘s dreaming“, hieß es in der zweiten Single der Sex Pistols, deren charismatische Leitfiguren Johnny Rotten (alias John Lydon) und Sid Vicious (alias John Simon Ritchie) den Aufruhr schon im Künstlernamen hatten. Dass es die Band (erfolglos) schon ein paar Jahre gegeben hatte, dass vieles von der Provokation sich im nachhinein als Marketingstrategie des umtriebigen Managers Malcolm McLaren erwies, wen kümmert’s? Mit dem bewusst schleißigen Outfit und der Fuck-It-Attitüde der Pistols war nicht nur PUNK geboren, sondern Millionen junge Leute in aller (westlicher) Welt vernahmen elektrisiert ein Signal zum Aufbruch. „Das hatte auch viel mit den so genannten Supergroups wie Led Zeppelin, Pink Floyd oder Yes zu tun“, fasst Distl zusammen, „die sich weit von ihrem Publikum entfernt hatten“ – und das buchstäblich: Die Dinosaurier des Rock mussten mit Sattelschleppern voller Equipment anrücken und spielten in riesigen Hallen und Stadien, wo sie durch Bühnengräben und Absperrungen von ihren Fans getrennt waren bzw. umgekehrt. „Punk war das Gegenteil. Jeder konnte das selbst machen, und man musste nicht einmal besonders gut spielen könnten.“ Heerscharen von Bands, vor allem aus UK, bewiesen das: The Clash verkündeten den „White Riot“, die Vibrators provozierten allein schon durch ihren Namen, 999, X-Ray-Spex (mit dem schönen Plastik-Saxofon-Sound), The Damned („I’m So Bored“) und viele andere legten nach.
Dass das Signal etwas länger brauchte, um nach Österreich durchzudringen, ist nichts Außergewöhnliches, aber es wurde durchaus gehört, auch und ganz besonders von Distl und Dee: „Die Punks erfanden alles neu, auch das Feuer“. Gleichgesinnte gab es überall, vor allem in Deutschland, und dem Punk tat die Übersetzung in die sperrige Sprache, die vorher von deutschsprachigen Rockbands tunlichst vermieden worden war, sehr gut. In der Bundesrepublik entstanden, teils aus der Punkszene, teils aus einem eher künstlerischen Umfeld, großartige Bands wie Der Plan, Hans-A-Plast, Fehlfarben oder Deutsch-Amerikanische Freundschaft (auch kurz DAF genannt). Die Ausrichtung zur Elektronik hin (wo die Deutschen schon lange federführen waren – siehe Kraftwerk) bereicherte Punk um eine neue Facette – eine Mischung, die sehr populär wurde. Die „Neue Deutsche Welle“ erfasste vor allem die Musik, aber auch andere künstlerische Bereiche. Gottfried Distl, der vor allem auf DAF bis heute große Stücke hält, war aber noch von anderen Vorbildern beeinflusst: den Beat-Poeten wie Kerouac oder Ginsberg, von Andy Warhol und seiner Factory-Idee und der damals modernen (und modischen) französischen Philosophie. 1980 gründeten Dee und Distl die „Krisenproduktion“, sozusagen eine Factory für zwei. Die beiden wurden nicht nur auf dem Gebiet der Performance aktiv, sondern auch filmisch und musikalisch: Das erste Projekt hieß – „provozierend, aber auch verspielt“ (Distl) – Rassemenschen helfen armen Menschen, ein Name, der auf eine damals in Wien stattfindende Katzen-Ausstellung (!) zurückgeht. Sie veröffentlichten zwei Singles, „Ich kann es nicht erklären / Alles ist mir recht“ (1981) und „Die Ballade von der Peripherie / Ist es nicht ein Wunder“ (1982), die –absolutes Adelsprädikat – auch vom damaligen Szene-Papst Diedrich Diederichsen in der deutschen Pop-Bibel „Sounds“ gewürdigt wurden: „Forcierter Untergangs-Singsang mit tollem, klarem Akzent, ausnahmsweise guten Synth-Rhythmen und einem ausgedrehten Rockabilly-Heini im Hintergrund.“ Dazu kam ein fünfter, lange Zeit unveröffentlichter Track namens „Grundloser Untergrund“, der schließlich gemeinsam mit den vier anderen 2007 auf dem Label Kunstflackschallplatte erschien.
New Wave-Swing
Geniale Dilettanten – so hieß nicht nur eine frühe Inkarnation der später gefeierten Einstürzenden Neubauten, sondern so verstanden sich auch Distl, Dee und ihre Mitstreiter, mit denen sie in der Folge (sehr frühe) Musik-Kunst-Clips und Super-8-Filme (Grundlos, Die Chance, Beat – A Bebop Fantasy) drehten – in letzterem ist übrigens, neben verschiedenen Mitgliedern der Wiener Ur-Punk-szene, der heute sehr bekannte Johannes Silberschneider in einer frühen „Rolle“ zu sehen. Weil kein Synchronton möglich war, wurde eben asynchron aufgenommen – wen juckte es? „Mit Genuss“, so Distl, „haben wir Formen erarbeitet und Medien ausprobiert.“ Ausprobiert, ja: Es wurde geschrieben, gefilmt, musiziert und publiziert, hinter- und auch nebeneinander: „Das Wichtige war, etwas zu tun, auch wenn es scheinbar schon alles gab. Der Film Grundlos reflektiert das: Weil es schon alles gibt und nichts mehr erfunden werden kann, erfinden Punks im Wien des Jahres 1981 alles noch einmal neu.“ Definitiv neu war jedenfalls, was Dee und Distl im März 1982 auf die Beine stellten: eine New-Wave-Swingband namens Sternenstaub. New Wave und Swing zu kombinieren, das machte so manchen etwas ratlos, wie der heutige FM4-„Sumpf“-Betreiber Fritz Ostermayer im Herbst 1982 in der längst verblichenen Musikzeitschrift „Vox“ referierte: „Die einfältige Fraktion jener Bewegung, die ständig und überall sich bemüßigt fühlt, dem „Zeitgeist“ zu huldigen, verstand wieder einmal nichts. Fluchtartig verließ sie den Tanzboden“, beschreibt Ostermayer sehr plastisch einen Auftritt von Sternenstaub im Szenetempel U4. „Die Gruppe – sitzend! – in Abendgarderobe, vor sich die verpönten Notenständer (weil Rocker spielen aus dem Bauch); die kühle, schweißlose Pose stieß ein weißes Publikum, das so gern zu ,Negerrhythmen’ tanzte, vor den Kopf.“ Dazu zwei Saxofonisten, das war den Wiener New Wavern offensichtlich echt too much.
Trotz solcher Widerstände wurden Sternenstaub doch einigermaßen bekannt, wenngleich die Bandgeschichte eine kurze war. Der bekannteste Song war wohl „Das moderne Gefühl“ mit einem Text von Andrea Dee: „Mein Styling, das ist aktuell, visuell, schick und schnell / Doch in mir hat sich nichts weitergedreht / Zu meinem hypermodernen Stil / Fehlt mir noch immer das neue Gefühl / Das moderne Gefühl“). „Sternenstaub wurden damals auch auf Ö3 gespielt“, sagt Distl, „als der ORF es sich noch leistete, neben Mainstream auch Subversives und Avantgardistisches zu senden.“ Damals, manche erinnern sich, gab es keine privaten Alternativen und kein Flächen- und kein Hitradio, und so konnten auch die Bands der Austrian New Wave – oder wie immer man das nennen mag – im Radio reüssieren, wie das ja zuletzt schon Minisex-Sänger Rudi Nemeczek (siehe FAQ No. 9) konstatiert hatte. Nach einigen Auftritten mit eigener Band (und den zwei Veröffentlichungen „Johnny Texas“ und „Ich Playboy“) neigte sich Distls musikalische Karriere allmählich dem Ende zu.
Er verlegte sich aufs Schreiben. Ein Auszug aus seinem 1987 veröffentlichten Roman „Europa den Afrikanern“ erschien bereits 1984 in der von Peter Glaser herausgegebenen New-Wave-Literatur-Kompilation „Rawums“ bei Kiepenheuer & Witsch, neben Texten von (unter anderen) Rainald Goetz, Diedrich Diederichsen, Clara Drechsler, Jutta Koether, Martin Kippenberger, Bodo Morshäuser und Hubert Winkels. Zwar steht auf dem Cover „Distel“ statt „Distl“, aber das tut dem Renommee keinen Abbruch. „Europa den Afrikanern“ wirkt heute, im nachhinein, in vielem fast prophetisch (siehe Titel!): Ein Szenereporter muss sich in einer in viele Sektoren aufgeteilten europäischen Stadt mit Amerikanern, Russen, Vietnamesen und diversen anderen „Ausländern“ herumschlagen. 1989 erschien noch „Schneemann Golem“, danach wurde es (jedenfalls musikalisch) ruhiger um Distl, Dee und ihre engagierten Versuche, sich der Erstarrung entgegenzustellen.
Gone but not forgotten
Mit der Notwendigkeit, den Lebensunterhalt zu finanzieren, „denn verdient haben wir bei den ganzen Aktionen höchstens Peanuts“, verschob sich naturgemäß der Fokus: Beide sind seit Mitte der Achtziger umfangreich journalistisch und publizistisch tätig. Gemeinsam leiteten sie viele Jahre lang die Gratis-Kinopostille „Skip“, Distl darüber hinaus auch noch das „Ö3-Magazin“. Andrea Dee verfasste eine Tier- und Naturschutz-Kolumne im „Standard“ und auch einige Bücher zum Thema, dazu eines über Kinderlosigkeit als Lebensform. Sie ist Chefredakteurin der Österreich-Sektion der Zeitschrift „Eltern“ und schrieb die Kurzgeschichtensammlung „Nichts Gutes – Wo Freddy abhängt und andere Stories“.
Doch nichts ist jemals vergessen, schon gar nicht im Internet- und Digital-Zeitalter. Wie viele andere Heroen aus „fernen“ Zeiten erfahren auch Distl und Dee jetzt noch einmal ihre späte Anerkennung durch die vielen Schatzgräber, die im Internet – zu Recht – eine der größten Errungenschaften der Menschheit sehen. Was kann man darin nicht alles finden, wonach man im Vor-Internet-Zeitalter völlig vergeblich gesucht hat! „Immer wieder bekamen wir Anfragen, wo man denn unsere Sachen finden könne, und lange Zeit war da nichts zu machen, weil die Auflagen ja sehr klein waren.“ Heute ist alles anders. Nicht nur wird, spät aber doch, durch Labels wie Monkey auch die österreichische Popmusik-Geschichte aufgearbeitet (zuletzt: Minisex, Sigi Maron, Ronnie Urini/Rocket), sondern dank iTunes, YouTube und anderer Plattformen sind viele Dinge wieder auffindbar, die viele Jahre lang als verschollen galten. User stellen die unglaublichsten Live- und Fernsehaufnahmen ins Netz, und auch die Musiker selbst tun ihr Bestes: „Thank God for the Internet“, sagt auch Gottfried Distl: „Alle unsere Arbeiten sind jetzt im Netz zu finden“, und das Interesse ist wieder voll entflammt – das des Publikums und seines. Im Oktober 2007 gehörten Distl und Dee zu den Protagonisten der Ausstellung „1.x-tended“ in Neulengbach. Dort wurden nicht nur ihre Filme gezeigt, die Beiden lasen auch aus ihren Texten, und seit damals gibt es auch eine DVD mit den sieben Musik-Clips/Super-8-Filmen. 2010 erschien bei Klanggalerie der verdienstvolle Sampler „Neonbeats“, auf dem neben Sternenstaub und Rassemenschen helfen armen Menschen zahlreiche weitere geniale Dilettanten der Zeit wie Passepartout, Die nervösen Vögel, Modell D’oo, Bates Unlimited oder Pas Paravant vertreten sind. Demnächst, im Herbst 2011, wird es tatsächlich und endlich eine CD geben, die den gesamten musikalischen Output von Distl und Dee versammeln wird: „Gottfried Distl & Andrea Dee. Collected Works 1981–2011“. Doch damit nicht genug: Erstmals seit fast 30 Jahren hat Distl für diese CD vier neue Tracks aufgenommen – zusammen mit den Konsorten. Mit sichtlichem Vergnügen und voll Stolz spielt Distl Rohversionen dieser vier Songs (einer davon heißt, unvermeidlich, „Hollywood ruft“) auf seinem Büro-Computer vor. Und da schimmert es wieder, in seinen Augen: das leuchtende Feuer der Revolution.