Man macht ein Festival, um die Art, Festivals zu machen, grundsätzlich zu verändern. Das sagt Milo Rau und bezieht sich dabei auf ein Zitat von Jean-Luc Godard. Ab Mitte Mai wird der neue Intendant der Wiener Festwochen samt Team in seiner ersten Saison auf dem Rathausplatz die „Freie Republik Wien“ ausrufen – mit einem offenen „Haus der Republik“, eigenem Gerichtshof und einer Art Bürgerrat, der dem Festival und seiner Leitung ein neues Regelwerk verpasst. Eine Hymne hat die Republik auch, und Milo Rau kann tatsächlich den Text. Überhaupt ist der 47-jährige Schweizer ein vielbeschäftigter Alleskönner. Er publiziert, inszeniert Theater und Oper, macht Filme, zuletzt war er künstlerischer Leiter des international gefeierten Stadttheaters NTGent. Jetzt also werden die Wiener Festwochen revolutioniert. Es scheint, dass es lange vor dem Start der Wiener Festwochen schon los geht mit den Diskussionen: Personen, die eingeladen werden, oder doch nicht eingeladen werden, die Presse und Politik wittern Skandal.
Kann es sein, dass Sie Skandale lieben, Herr Rau?
Milo Rau: Natürlich ist es das Ziel, eine Gesamterzählung zu haben, die stärker ist als alle einzelnen Teile. Wenn du in Woodstock warst und zehn Meter von der Bühne weg gestanden bist, hast du gar nichts mehr gehört und bist im Schlamm versunken. Aber es war klar, dass du da hingehen musst, weil dort das Herz deiner Zeit schlug. Als ich zu den Wiener Festwochen kam, habe ich mich gefragt: Was ist Wien eigentlich? Die Hauptstadt der Moderne. Was heißt es, eine Zweite Moderne zu haben? Also die Moderne zu globalisieren und Wien zu einer Hauptstadt der großen Debatten unserer Zeit zu machen? Wie kann man über Russland und die Ukraine oder den Palästina-Konflikt sprechen? Europa ist ja geteilt in der Erinnerungspolitik: Man hat das postkoloniale Europa, Belgien und Frankreich, und das vom Holocaust geprägte Europa, Österreich und Deutschland.
Sie wandern zwischen diesen beiden Europas?
Genau. Vor zwei Wochen hatte ich ein Interview in Belgien. Die Journalistin kam an mit einer Cola und ich habe einen Witz gemacht: „Weg damit, Coca-Cola ist ein fieser Konzern.“ Sie meinte, das sei schon okay, Coca-Cola stehe ja nicht auf der BDS-Boykottliste.
Die BDS-Kampagne, die Israel wirtschaftlich und kulturell isolieren will …
In Belgien richten sich also Journalistinnen und Journalisten nach der BDS-Boykottliste. Und dann gehst du über die Grenze nach Deutschland und dort ist BDS illegal. Das ist Europa! Darum haben wir für die „Rede an Europa“ Omri Boehm eingeladen, der befasst sich genau damit: Die Verbrechen in den Kolonien und der Völkermord an den europäischen Juden stehen in einer Erinnerungskonkurrenz, das droht die EU zu zerreißen. Wie kann Europa das überwinden, im 21. Jahrhundert ankommen, allen Verbrechen der Vergangenheit gerecht werden? Wir müssen lernen, dass niemand die ganze Wahrheit hat, jeder einen Teil davon. Ich bin mit niemandem ganz einverstanden, auch mit mir selber nicht. Aber solange ich keine rote Linie übertrete, oder sonst jemand, den ich eingeladen habe – solange sollte man sich zuhören.
Weil man nicht aufhören soll, miteinander zu reden?
Man hat ein privates Recht zu sagen, dass man bestimmte Meinungen nicht hören will. Aber dann soll man auch kein Festival besuchen. Im öffentlichen Raum gilt die Vielfalt der Argumente. Wenn man ins Theater geht, dann sieht man auf der Bühne zerrissene, verstörte Menschen, die verwirrende Dinge tun. Das ist halt das Theater! Sonst soll man zuhause bleiben! Und es ist der Auftrag eines Festivals, diesem ganzen wunderschönen Wahnsinn Raum zu geben – in der Hoffnung, dass er uns weiterbringt.
„Jean-Luc Godard hat gesagt, man macht einen Film, um die Art, wie man Filme macht, grundsätzlich zu verändern. Als künstlerischer Leiter in eine Institution zu gehen, in Gent oder jetzt in Wien, macht für mich als Regisseur überhaupt keinen Sinn, wenn es nicht genau darum geht: die Dinge strukturell zu verändern.“
Was hat den Festwochen gefehlt?
Ich war, glaube ich, sechs Mal als Regisseur hier. Es war immer super, eine große Ehre, ein tolles Publikum und die beste Technik der Welt. Aber es gab kein Festivalzentrum, keine Treffen mit anderen, keinen Ort, an dem es so richtig rund um die Uhr gewuselt hat. Nach den Premieren musste man in die Würstelbude, das war nicht schön. Die Leute, die hier gearbeitet haben, die hat man nicht getroffen, maximal hat man, wenn man ein bisschen bekannter war, dem Intendanten mal die Hand geschüttelt.
Ab sofort können alle dem Intendanten die Hand schütteln?
Jetzt haben wir offene Büros im „Haus der Republik“. Wir haben ein Begleitprogramm, das größer ist als das Hauptprogramm. Und wir versuchen, strukturell Dinge zu ändern und mit Hearings zu durchleuchten, wie bisher kuratiert wurde und wie wir in Zukunft kuratieren wollen.
Was soll bei den Hearings passieren?
Es gibt den „Rat der Republik“, bestehend aus etwa 30 internationalen und 69 lokalen Vertreterinnen und Vertreter, die sich in einem demokratischen Prozess Expertisen zu bestimmten Themen anhören. Wer wird gecancelt, und warum? Wer bekommt Geld, wer nicht? Wie wird kuratiert? Wer kuratiert? Macht das der Intendant? Oder braucht es dafür größere, demokratischere Gremien? Fünf mal zwei Tage diskutieren wir, immer basierend auf einer Analyse des Ist-Zustands. Unsere „Akademie Zweite Modere“ basiert zum Beispiel auf der Analyse, dass seit der Moderne in Konzert- und Opernhäusern weltweit nur zwischen zwei und sieben Prozent Komponistinnen aufgeführt werden. Wenn du Komponistinnen aus den USA, Europa und China ausnimmst, landest du bei 0,0-irgendwas. Wir globalisieren die Moderne, analysieren den Prozentsatz und fordern Quoten. Seit hundert Jahren hat sich da nichts geändert. Darum haben wir in der Akademie die 100-Prozent-Quote: global, weiblich, anti-elitär.
Was bei den Hearings herauskommt, wird verpflichtend sein?
Klar, das ist nicht nur Blabla, das wird implementiert. Es geht in den Gemeinderat, den Verwaltungsrat des Festivals. Es gibt zum Beispiel viele ungeschriebene Kurations-Regeln bei den Festwochen: Bist du eine Wiener Künstlerin oder ein Wiener Künstler, dann kommst du nicht vor. Oder: In Europa produzierter Globaler Süden und Westeuropa ist toll, im Globalen Süden selbst und in Osteuropa produzierte Kunst ist nicht toll. Es geht darum, zu verstehen, was wir eigentlich tun. Und dann klarzumachen, wo wir hin wollen. Das ergibt am Ende des Festivals die „Wiener Erklärung“.
Kann es passieren, dass die dann so ausfällt, dass bei den Festwochen nur noch Operetten oder Musicals aufgeführt werden?
Dafür ist der Rat zu divers. Das Festival hat ja sinnvollerweise Vorgaben. Wir müssen und wollen zum Beispiel alle Sparten bedienen. Wir dürfen nicht nur die Fans von Johann Strauß, Florentina Holzinger oder Milo Rau ansprechen, wir müssen alle erreichen.
Solche Vorgaben haben Sie als Intendant?
Ja. Aber natürlich kann man sich dafür entscheiden, ein nah an Osteuropa gebautes Festival zu sein. Wir machen nicht das Westeuropa-und-Globaler-Süden-Programm wie Avignon oder das Kunstenfestivaldesarts in Brüssel, sondern gehen eher auf Osteuropa. Wir machen eine Quote. Wir wollen auch ein produzierendes, tourendes Festival werden.
Was bedeutet das?
Festwochen on Tour. Das war unser Erfolgsrezept beim NTGent: Da sind wir an bestimmten Wochenenden in fünf Städten gleichzeitig mit unseren Produktionen präsent. Das wollen wir hier auch, dass überall auf der Welt die Leute ins Theater gehen und sehen: Festwochen, Festwochen, Festwochen! Wir wollen unterm Jahr wie so ein Stadttheater sein, das aber global tourt. Es könnte also passieren, dass wir ein Stück im September produzieren, es zuerst im Ausland zeigen und dann im Mai damit zu den Festwochen kommen. In diese gewaltige Verdichtung, in diesen Wahnsinn, die eben die Festwochen sind, die Freie Republik Wien. Und wohin dann die ganze Welt kommen wird.
Für wen sind die Festwochen?
Du merkst schon, dass es da aktuell noch eine Schwelle gibt, eine Klassenschranke. Weil sich die Leute nicht für die Themen interessieren, die Namen nicht kennen, die in der Kunstbranche ausschlaggebend sind. Sobald du aber Skandale hast, über die alle reden, wird’s interessant. Eine Skandalisierung ist immer der Versuch, dass man weiß, dass etwas existiert: Man will einfach hin, dabei sein, obwohl man die Inhalte gar nicht gekannt hat vorher. Ein anderer Ansatzpunkt, um ein Festival zu öffnen, sind natürlich die Ticket-Preise. Dass alle Menschen unter 30 Jahren um nur 15 Euro jede Vorstellung sehen können, ist zum Beispiel genial. Oder auch die Zusammenarbeit mit unseren Bezirkspartnern bei „Die Rechnung“, dem sogenannten „Volksstück“, mit dem wir in alle Bezirke gehen. Da verkaufen unsere Partner vor Ort die Hälfte der Tickets.
Die Quoten, viele verschiedenen Reihen, Manifeste und selbst auferlegte Regeln: Machen Sie es sich gern kompliziert?
Erst wenn du explizit bist, politisierst du dich, bist du messbar und auch kritisierbar. Natürlich werden wir alle Vorgaben am Ende nicht schaffen, aber es kommt darauf an, dass jeder weiß, was wir vorhaben. Wir erarbeiten jetzt die Erklärung, die Verfassung. Im nächsten Jahr gibt es das erste Maßnahmenpaket. Jean-Luc Godard hat gesagt, man macht einen Film, um die Art, wie man Filme macht, grundsätzlich zu verändern. Als künstlerischer Leiter in eine Institution zu gehen, in Gent oder jetzt in Wien, macht für mich als Regisseur überhaupt keinen Sinn, wenn es nicht genau darum geht: die Dinge strukturell zu verändern. In Gent konnten die Kunstschaffenden kommen und sagen, die Regel lautet „Acht Städte in drei Ländern, mein Stück war aber erst in zwei Ländern in sieben Städten.“ Und da bin ich als Künstlerischer Leiter dann unter Druck. Es ist wichtig, dass die Institutionen unter Druck geraten, weil sie eben explizit sagen, woran man sie messen kann. Die übliche Herrschaftspraxis ist ja, dass es viel Gerede und gleichzeitig einen großen Graubereich gibt. Als Künstlerin und Künstler oder Zuschauerin und Zuschauer weißt du nie, welche Rechte du hast. Eine demokratische Gesellschaft braucht aber demokratische Institutionen, die sagen: Das sind deine Pflichten, das sind deine Rechte. Wenn Leute in Gent fragen, ob sie zu meinen Proben kommen können …
Was antworten Sie denen?
Ich sage: Regel Nummer drei sagt, du hast das Recht zu kommen. Ich kann es dir nicht verbieten. Und das ist halt toll.
Sie sprechen die zehn Regeln an, die Sie bei ihrem Antritt am NTGent aufgelegt haben. Zum Beispiel, dass ein Bühnenbild maximal so groß sein darf, dass es in einen Transporter passt, den man mit einem normalen Führerschein fahren kann. Sind diese Regeln wirklich alle beachtet worden?
Nein. Ich habe ein paar Modell-Stücke gemacht, wo alle Regeln knallhart befolgt wurden. Bei den anderen Produktionen sind wir so nahe wie möglich dran geblieben. Das werden wir jetzt in Wien auch machen: dass du Bühnenbilder so zerlegen kannst, dass sie billiger und vor allem tourfähig werden.
Sie schildern eine größere Vernetzung mit anderen Festivals oder Theaterhäusern. Man kauft auf dem internationalen Markt nicht bloß Produktionen ein, sondern die Festwochen werden zum Produzenten und schicken Stücke oder Reihen auf die Reise. Was steckt da dahinter?
Es wird im besten Fall eine Art Mythos um die Festwochen entstehen, so wie ums NTGent einer entstanden ist. Für die Reihe „Histoire(s) du Théâtre“ am NTGent bewerben sich Kunstschaffende aus der ganzen Welt. Denn wenn du in der Reihe ein Stück inszenierst, weißt du schon, dass du durch 50 Städte touren wirst, weil alle das sehen wollen. Und weil es einfach eine Ehre ist, darin vorzukommen. Die „Histoire(s) du Théâtre“ werden in Zukunft von den Festwochen produziert, und auch unsere neue Reihe „Volksstück“ ist ein Statement. In die Sporthallen gehen, ins Strandbad, Theater in allen Bezirken zu zeigen ohne Barriere zur Volkskultur, das ist Basisdemokratie als Produktionsprinzip. Das ist lebende Programmatik, so wie die „Akademie Zweite Moderne“. Unsere ganze Republik ist eine programmatische Idee: Zu sagen, dass sich die Zivilgesellschaft zusammenschließen muss gegen eine Politik, die auf Diskursgewinne, nicht auf Lösungen aus ist. Ich habe viele israelische Freunde, die in Deutschland nicht mehr produzieren können, weil die deutsche Politik ihnen vorschreiben will, wie sie über die Innenpolitik ihres eigenen Landes sprechen sollen. Wir können doch nicht einen Genozid an den europäischen Juden durchführen und den Überlebenden und ihren Nachkommen nachher noch sagen, wie sie darüber reden sollen. Das gleiche herablassende Verhalten kann man in Westeuropa gegenüber den ehemaligen Kolonien beobachten: Die haben sogenannte „Afrikamuseen“ voller Raubkunst, die haben Statuen von Völkermördern wie dem ehemaligen belgischen König Leopold. Wir Europäer scheinen unfähig zu akzeptieren, dass unser historisch gewachsener Universalismus in den ehemaligen Kolonien beleidigend ist. Und es stellt sich doch die naheliegende Frage: Ist unsere Erinnerungskultur global kompatibel oder ist sie in Wahrheit ein Herrschaftsmittel? Und das betrifft nicht nur Europa selbst. An der Documenta gab es ja diesen Konflikt, als plötzlich viele Positionen aus dem Globalen Süden kamen und die Deutschen es total komisch fanden, weil das nicht so richtig zu ihrer Leitkultur passte. Nun ja, die ehemaligen Kolonien haben vielleicht auch eine Leitkultur. Vielleicht brauchen wir eine grosse, auch schmerzhafte Debatte, um gemeinsam zu einer globalen Leitkultur zu kommen. Und dafür gibt es, glaube ich, ein Festival wie die Festwochen, um zu sagen: Es gab eine europäische Moderne, schön und gut. Aber jetzt brauchen wir eine globale Moderne, die die Fragen unserer Zeit stellt! …
Lesen Sie das vollständige Interview in der Printausgabe des FAQ 75
Wiener Festwochen
17. Mai bis 23. Juni 2024
www.festwochen.at