Sonnenlicht! Er male das Sonnenlicht, sagt Vincent van Gogh (Willem Dafoe) mit einer hastigen Bestimmtheit, als hänge sein ganzes Leben an diesem einen Wort – und in gewisser Weise tut es das wohl auch. Immerhin sind das Licht und der Himmel unter dem er sich bewegt, so ziemlich das Einzige, was dem Künstler über die Jahre geblieben ist. Würde ihn sein Bruder Theo (Rupert Friend) nicht mit regelmäßigen Geldsendungen über Wasser halten, wer weiß, ob es ihn dann überhaupt noch gäbe, von den unzähligen Gemälden und Zeichnungen, die er in Rekordzeit produziert, einmal ganz abgesehen. Das Malen, weiß van Gogh, ist seine einzige Chance, um die inneren Dämonen fern und die Dunkelheit außen vor zu halten, so gut es eben geht. Denn der schwermütige Niederländer ist ein ewig Getriebener. Einer, der die Landschaft bewandern, die Erde unter den Füßen und den Wind im Gesicht spüren muss, bevor er das Gesehene, oder besser: das Erfahrene, auf die Leinwand bannt, stets in Kampf mit sich und hoffnungslos gefangen zwischen den Kräften, die an ihm zerren und die zunehmend sein Blickfeld trüben. Nur eine Sache, so van Gogh, die sehe er ganz klar und immer dann, wenn er vor einer flachen Landschaft stehe: die Ewigkeit.
Vincent an Gogh, der Sohn eines Pfarrers und einer Buchbinderstochter, war mit Sicherheit kein Heiliger, aber sein Werk, so zumindest will es Julian Schnabel in seinem emphatischen Künstlerdrama vermitteln, hat bei aller Fiebrigkeit, in der es entstand, durchaus etwas Erhabenes. Die Ehrfurcht, mit der sich der Regisseur seinem Subjekt widmet, findet seinen Ausdruck in den schweren, nachdrücklichen Klavierklängen, die van Gogh bei seinen täglichen Erkundungs- und Maltouren rund um Arles begleiten, sowie in einem eindringlichen Voiceover von Dafoe, in dem sich van Goghs Gedanken spiegeln, seine Wünsche, Hoffnungen und Einsichten genauso wie seine Ängste und seine Sorgen. In Arles, einem kleinen, verschlafenen Städtchen in Südfrankreich, erhofft er sich die nötige Inspiration für seine Kunst zu finden, er sehnt sich nach dem Licht des Südens, nach Wärme und Gesellschaft. Seine Vorstellung von einem Gemeinschaftsatelier, das er für sich und seine Pariser Künstlerfreunde plante, wollte er hier verwirklichen.
Als der Maler jedoch im Februar 1888 in dem verschlafenen Ort abseits der städtischen Künstlerpfade eintrifft, wird er vom Winter wie von den Bewohnern eher harsch empfangen. Zwar verbessern sich die Temperaturen mit dem langsam einziehenden Frühling, nur mit den Menschen hat van Gogh nach wie vor kein Glück. Für die engstirnigen Franzosen ist der rothaarige Müßiggänger ein Sonderling, der sich zunehmend zu einem öffentlichen Ärgernis entwickelt. Zudem lassen auch seine Kollegen, allen voran der mittlerweile gut im Kurs stehende Paul Gauguin (Oscar Isaac), auf sich warten. Also stürzt sich van Gogh in die Arbeit, malt so ziemlich alles, was ihm über den Rand seiner mitgenommenen Staffelei vor die Nase kommt: von glühenden Landschaften, blühenden Obstgärten und seinen abgelaufenen Schuhen bis hin zu den berühmten Sonnenblumen, die später auf Auktionen Rekordsummen erzielen sollten. Zu spät für van Gogh, der immens unter der Ablehnung litt, die ihm Zeit seines Lebens von seiner Umgebung entgegengebracht wurde.
Dafoe dagegen gibt ihm alles, er verleiht seinem Vincent van Gogh nicht nur die nötige Integrität, sondern auch eine gewisse Leichtigkeit und die nötige Zerbrechlichkeit, die immer dann zum Vorschein tritt, wenn sich von Gogh wider Willen mit sich selbst konfrontiert sieht, im Spital zum Beispiel, wenn es mal wieder zu einem Aussetzer kam und er sich nicht an die Umstände erinnern kann, die ihn dorthin brachten. Diese zarten Momente, die wenigen privaten Gespräche mit seinem Bruder, in denen er sich ihm gegenüber zu öffnen und zu erklären versucht, gehören zu den stärksten im Film. Dabei verblüfft über die äußere Ähnlichkeit hinaus vor allem eine spürbare innere Verbundenheit zwischen dem gebrochenen Künstler und dem Schauspieler, der ihn auf gewohnt professionelle, bemerkenswert nonchalante Weise verkörpert. Die rastlose Kreativität, der sich van Gogh bis zur Erschöpfung hingab, ist für Dafoe, der sich zuvor bereits als Pasolini oder Jesus behauptete, nicht weniger entscheidend. Und mehr noch: Auch er weiß nur zu gut, dass die wahre Kunst einen Künstler zu porträtieren, gerade darin besteht, sein Wesen zu erfassen, ohne dabei das Genie zu verraten, das dahinter steckt.
Man hat sich im herrschenden Überfluss an Künstlerbiografien mittlerweile daran gewöhnt, dass es in der Regel Lobeshymnen sind – ganz im Gegensatz etwa zu Biopics über Politiker oder Wirtschaftsgrößen, denen sich die Macher gerne ungeniert und bewusst kritisch nähern. Künstler, egal wie radikal ihre Werke auch sein mögen, richten weniger Übel in der Gesellschaft an. Ihnen widmet man sich in erster Linie um der Kunst willen, ohne dabei von vornherein nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der Arbeit oder Widersprüchen in der Vita zu suchen. Julian Schnabel, der das Publikum und die Kritik mit seinem filmischen Schaffen bisher fast noch mehr überzeugte als mit seinen Kunstprojekten, bildet in diesem Kanon eine willkommene Ausnahme. 1996 ließ er in Basquiat das Feuer hell lodern, das Zeit seines Lebens in der Seele seines früh verstorbenen Künstlerfreunds brannte. Vier Jahre später setzte er sich in Before Night Falls (2000) mit der Biografie des kubanischen Schriftstellers und Dichters Reinaldo Arenas auseinander und zeigte bereits damals ein kluges Händchen in Sachen Casting, als er die Hauptrolle mit Javier Bardem besetzte. In dem puristischen Konzertfilm Lou Reed’s Berlin (2007) stand schließlich der große Musiker selbst auf der Bühne und damit im Mittelpunkt des Geschehens. Schnabels Kunst liegt hier vor allem in der filmischen Komposition, der erzählerischen Form, die sich konsequent der gängigen Dokumentationsweise entzieht.
Am ehesten lassen sich in At Eternity’s Gate jedoch Parallelen zu Schnabels bisher größtem Kinoerfolg finden. Sein Film Le scaphandre et le papillon (2007) über den Chefredakteur der französischen Ausgabe von „Elle“, Jean-Dominique Bauby, der 1995 im Alter von gerade mal 43 Jahren einen schweren Schlaganfall erlitt, der den Journalisten und Vater zweier Kinder vollständig gelähmt zurückließ, ist nicht nur ein erfrischend unsentimentaler Film über das bestürzende Schicksal eines Mannes, der erst im größten Unglück zu sich selbst findet, der Film ist zudem eine gelungene Versuchsanordnung über das Wesen und die Grenzen des Kinos selbst. Schnabel inszeniert darin die Möglichkeit der Rückeroberung des eigenen Lebens anhand von Unschärfen, Rahmungen, schiefen Sichtachsen – alles Hilfsmittel, die ihm jetzt erneut im Hinblick auf van Goghs eigenwillige, unkonventionelle und zum Teil eingeschränkte Sicht auf die Welt ebenfalls nützlich erscheinen.
Tatsächlich macht die Kameraarbeit auch in At Eternity’s Gate einen Großteil der Faszination aus. Schnabel arbeitet freier, ungezwungener als sein Subjekt, von dem man manchmal eher das Gefühl hat, dass er einen ihm auferlegten Fluch durch die Malerei zu entkommen versucht, anstatt einer Leidenschaft nachzugehen. Aus den verwegensten Winkeln folgt Benoît Delhommes aufmerksame Kamera den staunenden Blicken van Goghs, wenn er beispielsweise zum Himmel hinaufschaut oder in die Ferne, um den Horizont zu sehen. Ganz neu und individuell auf van Goghs Farbpalette abgestimmt sind dagegen die in satte Gelb- und kühle Blautöne getränkten Bilder, die Schnabel bisweilen dazu verleiten, seinen eigenen Stilwillen anhand von intensivierten Stimmungsbildern auf die Leinwand zu projizieren und auf diese Weise mit seinem getriebenen Protagonisten auf Tuchfühlung zu gehen. Dabei sollte der mittlerweile 67-jährige gebürtige New Yorker es eigentlich am besten wissen: Kein Film und keine Katalogabbildung kann wiedergeben, was die Anziehung, die Aura von van Goghs Kunst und seiner leuchtenden, wie vom Rausch ergriffenen Malerei ausmacht. Seine nachhaltige Wirkung entfaltet sie nur im Original.
Gelungener sind deshalb jene Passagen, die den Künstler direkt bei der Arbeit zeigen, und die illustrieren, wie aus ein paar scheuen Linien strahlende Gemälde entstehen. Gekonnt praktiziert Dafoe in diesem Momenten die stürmische, fast athletische Art der Pinselführung van Goghs, während Oscar Isaacs sprachgewandter Gaugin seinen Freund immer wieder zur Ruhe und Reflexion ermahnt. Seine Ansichten über die Art und Weise des Malens sind so konträr zu jenen van Goghs wie auch ihre Kunstwerke selbst zueinander in Kontrast stehen.
Dennoch schätzt er Gauguin wie kaum einen anderen Menschen in seinem Umfeld, zieht lebenswichtige Energien aus den angeregten Diskussionen und künstlerischen Auseinandersetzungen, die ihn davor bewahren, den Verstand zu verlieren. Bis zu jenem berühmten Tag im Dezember des Jahres 1888, als ihm seine Bestürzung über die plötzliche Abreise Gauguins am Ende sein Ohr kostet.
In den Kreis der bereits existierenden van-Gogh-Filme, die von Vincente Minnellis klassischem Melodram Lust for Life mit Kirk Douglas in der Hauptrolle über Maurice Pialats Biopic von 1991 bis hin zum unlängst erschienenen Loving Vincent (2017) reichen, dem fabelhaften in Öl gemalten Animationsfilm von Dorota Kobiela und Hugh Welchman, reiht sich At Eternity’s Gate insofern nahtlos ein, als dass auch Schnabels Versuch, das Genie van Goghs zu erfassen, keiner ist, der alle Fragen beantworten und das Publikum durch einen Parcours der Gewissheiten schleusen will. Auf der großen Leinwand wie im Museum werden die Grenzen der Kunstgeschichte deutlich. Die Zuschauer müssen sich selbst auf die Suche nach dem Zauber machen. Es ist, gerade auch deshalb, ein fesselnder Film.
Van Gogh – An der Schwelle zur Ewigkeit / At Eternity’s Gate
Drama/Biografie, USA//Frankreich 2018 – Regie: Julian Schnabel; Drehbuch: Jean-Claude Carrière, Julian Schnabel, Louise Kugelberg; Kamera: Benoît Delhomme; Schnitt: Louise Kugelberg, Julian Schnabel; Musik: Tatiana Lisovkaia; Production Design: Stéphane Cressend
Mit: Willem Dafoe, Rupert Friend, Mads Mikkelsen, Oscar Isaac, Mathieu Amalric, Emmanuelle Seigner, Niels Arestrup
Verleih: Filmladen, 110 Minuten
Kinostart: 19. April