Pötzlich waren alle Charlie, aber keiner wollte Jude sein. Es dauerte merkwürdig lange, bis nach den Anschlägen von Paris im Jänner thematisiert wurde, dass die islamistischen Attentäter nicht nur eine linke Zeitungsredaktion, sondern auch ganz gezielt Juden ins Visier genommen hatten. Die österreichische Bundesregierung schaffte es in ihren pflichtschuldigen Solidaritätserklärungen nicht einmal, die jüdischen Opfer des Anschlags eigens zu erwähnen, sondern redete etwas daher von „Bürgern unterschiedlichster Konfessionen, die offenbar nur zum falschen Zeitpunkt an den Orten des Terrors waren.“
Doch wer den Antisemitismus nicht thematisiert, kann den Islamismus nicht angemessen kritisieren und bekämpfen. Der Judenhass ist keine beliebige Zutat der islamistischen Ideologie, sondern gehört zum Kern jeglicher Ausprägung einer radikalen Interpretation des Islam. Und zwar nicht erst seit ein paar Jahren, sondern seit gut einem Jahrhundert. Die 1928 gegründete ägyptische Muslimbrüderschaft war mit ihren Vordenkern Hassan al-Banna und Sayyid Qutb für fast alle späteren Richtungen des radikalen Islam einschließlich der schiitischen prägend. Der Übersetzer der programmatischen Schriften von Qutb ins Persische war niemand anderes als der heutige oberste geistliche Führer des Iran, Ali Khamenei. Die Muslimbrüderschaft entstand als Prototyp einer islamistischen Organisation nahezu zeitgleich mit den faschistischen und nationalsozialistischen Massenbewegungen in Europa. Der sprunghafte Anstieg ihrer Mitglieder resultierte Anfang der dreißiger Jahre ganz so wie beim europäischen Faschismus und Nationalsozialismus aus einer massenhaften, wahnhaft projektiven Reaktionsweise auf die hereinbrechende kapitalistische Moderne. Dieser Mechanismus, bei dem Juden für alles an der krisenhaften Moderne als negativ und bedrohlich Wahrgenommene verantwortlich gemacht werden, war dann auch einer der zentralen Gründe für die Massenunterstützung von Ajatollah Khomeini seit den siebziger Jahren im Iran.
Al-Banna, der bis heute von allen Fraktionen der Organisation verehrte Gründer der Muslimbruderschaft, hatte noch 1946 Lobpreisungen für Amin el-Husseini im Angebot, den wüst antisemitischen, mit den Nazis kollaborierenden und ab 1941 in Berlin residierenden Mufti von Jerusalem. El-Husseini konnte sich einer Strafverfolgung durch die Alliierten entziehen, indem ihm nach dem Zweiten Weltkrieg die Flucht nach Kairo gelang. Dort erklärte al-Banna 1946: „Was für ein Held el-Husseini doch ist. Er wagte es, sich mit der Hilfe der Deutschen und Adolf Hitlers gegen das britische Imperium aufzulehnen, gegen den Zionismus zu kämpfen. Und was ist jetzt: Die Deutschen und Hitler sind geschlagen, aber el-Husseini kämpft unverdrossen weiter.”
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Stephan Grigat ist Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft an der Universität Wien und Autor (u.a. für Jungle World, Konkret, Frankfurter Rundschau, Der Tagesspiegel, die tageszeitung, Die Zeit, Cicero Online, Die Presse, Der Standard, Wiener Zeitung, Salzburger Nachrichten, Die Furche, Neue Zürcher Zeitung)