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Der ganz normale Wahnsinn

Text: Bert Rebhandl | Fotos: Filmladen

Mads Mikkelsen ist ein Star, der Attraktion mit Alltäglichkeit verbindet. In diesem Jahr hat er gleich mehrere große Rollen im Kino.

"Der Rausch" Foto: Henrik Ohsten

Bis auf die zweite Ziffer hinter dem Komma weiß Martin, ein Lehrer an einer dänischen Oberschule, genau, wie es ihm geht. Bei 0,48 Promille geht es ihm nämlich gut. Mit ein wenig Alkohol im Blut geht es ihm viel besser als ohne, wobei es ihm ohne zuletzt ziemlich schlecht ging. Der nüchterne Martin langweilt seine Schüler, er weiß nicht, welchen Stoff er in Geschichte zuletzt unterrichtet hat, und seine Frau scheint sich auch schon an seine teilnahmslose Gegenwart gewöhnt zu haben. Sie reagiert nämlich ein bisschen überrascht, als Martin eines Abend zum Essen ein Glas Wein trinkt und plötzlich wieder Ideen hat, zum Beispiel für einen Paddelausflug mit den zwei Söhnen.

Martin ist die männliche Hauptfigur in dem Film Druk (Der Rausch) von Thomas Vinterberg. Für den Schauspieler Mads Mikkelsen ist diese Rolle eine interessante Herausforderung. Denn er muss nun im Grunde ja auch bis auf die zweite Stelle hinter dem Komma genau einen Mann spielen, der ein wenig blau ist, oder beschwipst, oder in der Welle – es gibt viele Umschreibungen für den Einfluss von Alkohol auf das menschliche Empfinden. Schauspieler aber sind in der Regel nüchtern, wenn sie Betrunkene spielen. Da geht es also um Millimeterarbeit mit den Gesichtszügen, mit den Stimmbändern, mit dem Blitzen in den Augen, das schon erstorben schien. Zusätzlich interessant ist das im Fall von Druk, weil Mikkelsen gemeinsam mit ein paar anderen Männern zu sehen ist – auch sie Lehrer an derselben Schule und Teilnehmer an demselben Experiment. Sie wollen durch kontrollierte Zufuhr von Alkohol ihren schal gewordenen Existenzen ein wenig Feuer geben. Nicht zuviel, gerade einmal so, dass niemand merkt, dass sie gerade beginnen, ein Suchtmittel zu missbrauchen. Die Kollegen sind wie Martin auch ganz normale dänische Männer. Es geht ihnen gut, wenn einer Geburtstag hat, gehen sie in ein teures Restaurant. Sie wirken alle wie Vertreter eines Gesellschaftsmodells: In Dänemark sind die Hierarchien flach, Normalität ist eine Tugend, niemand ragt groß heraus. Mads Mikkelsen ragt aber natürlich heraus. Er ist längst deutlich größer als das dänische Kino, größer auch als das europäische Arthouse-Kino, das in Dänemark sehr wesentlich miterfunden wurde.

„Druk“ Foto: Henrik Ohsten

In diesem Jahr wird er auch in Chaos Walking zu sehen sein, einem dystopischen Thriller von Doug Liman mit illustrer Besetzung (Tom Holland, Demián Bichir, Cythia Erivo, Daisy Ridley, David Oyelowo), er hatte aber auch schon Rollen im „Star Wars“-Franchise und im Marvel-Universum. Bei allem internationalen Ruhm hält er aber seinen Heimatland die Treue, und so steht derzeit neben Druk noch ein weiterer dänischer Film zur Veröffentlichung an, in dem Mikkelsen in einer markanten Rolle zu sehen ist: In Riders of Justice kehrt er zu jenem Regisseur zurück, der für seine Karriere wohl entscheidend war, zu Anders Thomas Jensen. 2002 kam Blinkende Lichter heraus, eine Gaunergeschichte um vier Männer, die einen Job für einen Obergauner erledigen sollen, dabei an viel Geld kommen und daraufhin versuchen, sich selbstständig zu machen. Mikkelsen war damals zu Beginn eher noch eine Nebenfigur, ein junger, halb verwahrloster, sehr gewaltbereiter Typ, der im Verlauf eines halben Road Movies aber allmählich menschlichere Züge annimmt.

„Riders of Justaice“ Foto: Anders Overgaard

Die Filme mit Thomas Anders Jensen bilden seither so etwas wie ein Grundgerüst in Mikkelsens Karriere. Auch deswegen, weil er sich da meistens ein bisschen verwandeln muss, also von seiner Attraktivität mit den fein geschnittenen Gesichtszügen abweicht: In Dänische Delikatessen trägt er eine Stirnglatze, in Adams Äpfel weicht er mit ramponierter Nase und Priestermontur von seinem idealen Look ab, in Men & Chicken reicht ein nicht allzu fein getrimmter Schnurrbart, um ihn ein bisschen dümmlich wirken zu lassen. In Riders of Justice ist er nun ein Berufssoldat, der vielleicht schon vor dem Einsatz in Afghanistan nicht besonders gesellschaftsfähig war, der nach einem schrecklichen Verlust in der Familie aber nur noch vor sich hin vegetiert, und dabei mit Rauschebart und militärisch geschorenem Haupthaar deutlich signalisiert, dass er lieber nicht behelligt werden möchte.

Die Wandelbarkeit, die Jensen von Mikkelsen verlangt, hat auch mit den Genre-Variationen zu tun, die zu einem Markenzeichen des wichtigsten dänischen Filmemachers geworden sind, der nicht zum Magnetfeld von Dogma 95 gehört. Jensen verknüpft Komödie, Märchen, metaphysische Spekulation und teilweise ganz schön heftige Gewalt zu einem sehr eigentümlichen Mix, und es scheint so, als finde Mikkelsen große Befriedigung darin, sich dafür immer wieder neu zu verwandeln. Auffällig ist auch, dass er sich in Ensemblezusammenhängen wohlzufühlen scheint. In Riders of Justice bekommt er es wieder mit ein paar schrägen Figuren zu tun, und Mikkelsen kann den Tough Guy inmitten von Nerds geben. Er hat also auch wieder einmal einen Humanisierungsauftrag, denn Jensens Filme haben immer etwas Therapeutisches, sie beginnen gern einmal mit Verhärtungen, die dann allmählich aufgebrochen werden. Mikkelsen spielt nicht selten Figuren, die sich vom Rand allmählich ins Zentrum bewegen, und Jensen schreibt meist Geschichten, die sich in ihrem Verlauf mehrfach grundlegend verwandeln. So hat auch Riders of Justice erst von der Schlusspointe her seine vollständige Berechtigung. Davor wäre er ein teilweise grotesk brutaler Film über eine Welt ohne Sinn. Danach ist er ein Antimärchen, das doch noch zu der erlösenden Formel zurück findet: Und wenn sie nicht gestorben sind …

„Druk“ Foto: Henrik Ohsten

Mit einer seiner populärsten Rollen hat Mikkelsen sich einmal prononciert von seinem Image als Erster unter halbwegs Gleichen gelöst: In der Fernsehserie Hannibal trat er in die Fußstapfen von Anthony Hopkins und interpretierte die Figur des kannibalischen Serienmörders Hannibal Lecter neu. Der ist ja bekanntlich nicht gut in ein alltägliches Leben integrierbar, sondern lebt nach seinen eigenen, perversen Regeln. In dieser Rolle – eine vierte Staffel steht als Möglichkeit weiterhin im Raum – kann Mikkelsen ausnahmsweise einmal die unheimlichen Facetten seines Charismas so richtig glänzen lassen. Man sieht dabei aber auch, dass der Unterschied zwischen dem lächerlichen Grillmeister in Dänische Delikatessen und dem „Gourmet des Undenkbaren“ in Hannibal schauspielerisch nicht die ganz großen Register erfordert. Mikkelsen bleibt im Wesentlichen eben doch immer Mikkelsen.

Und so begibt er sich in Druk auf eine Reise, für die es im Deutschen einen passenden Ausdruck gibt: Der Lehrer Martin versucht, als sogenannter Spiegeltrinker besser durch den Alltag zu kommen. Die hohe Kunst des Maßhaltens verträgt sich aber nun einmal nicht gut mit der hohen Kunst der gut dosierten Stimulation. Es sind vor allem die Szenen einer Ehe, in denen Mikkelsen sich als spannender Charakter-schauspieler zeigt. Er spielt dann nämlich irgendwann über sein gutes Aussehen deutlich hinweg und lässt einen Mann in großer Not erkennbar werden. Einen Mann, dem der Funke verloren gegangen ist, ohne den kein Schauspieler sich vor die Kamera trauen würde. Oder ein Lehrer vor die Schüler. Das ist dann eine Krise, die sich nicht mehr im Promillebereich messen lässt. Und für die es einen echten Star braucht.

 

DRUK  / DER RAUSCH
Romanze/Drama, DK, SE, NL 2020 Regie Thomas Vinterberg Drehbuch Thomas Vinterberg, Tobias Lindholm Kamera Sturla Brandth Schnitt Janus Billeskov Jansen, Anne Østerud Musik Mikkel Maltha  Kostüm Ellen Lens, Manon Rasmussen
Mit Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Magnus Millang, Lars Ranthe, Maria Bonnevie, Helene Reingaard Neumann
Oscar für Bester internationaler Film

RIDERS OF JUSTICE / HELDEN DER WAHRSCHEINLICHKEIT
Romanze/Drama, Dänemark 2020 Regie Anders Thomas Jensen Drehbuch Anders Thomas Jensen Kamera Kasper Tuxen Schnitt Anders Albjerg Kristiansen, Nicolaj Monberg Musik Jeppe Kaas
Mit Mads Mikkelsen, Nikolaj Lie Kaas, Lars Brygmann, Nicolas Bro, Andrea Heick Gadeberg, Gustav Lindh, Roland Møller

 

| FAQ 60 | | Text: Bert Rebhandl | Fotos: Filmladen
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