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Der Große Rausch

Text: Christoph Benkeser | Fotos: Magdalena Blaszczuk

Unser Zeitalter ist besessen von Geschwindigkeit. Schnellere Autos, schnellere Smartphones, schnelleres Internet – wir wollen den Kick, und zwar möglichst, ohne dabei Zeit zu verlieren. Zeit, die wir nicht haben, weil sie uns von Arbeit geraubt wird, die uns gerade so am Leben erhält. Wir vermessen unseren Körper, verdrahten unseren Geist und hoffen, dass wir dabei irgendwie Zeit gewinnen. Zeit, um mehr aus unserem Leben herauszuholen. Selbstoptimierung durch Selbstdisziplin, das ist die Versprechung. Also tracken wir unseren Schlaf, zählen unsere Schritte und beantworten auf dem Weg ins Büro die ersten E-Mails, weil sich das gestern zwischen After-Work-Drink, Fitnessstudio und der Lieferdienstbestellung nicht mehr ausgegangen ist. Wir leben mit der Illusion, dass wir, wenn wir immer mehr Dinge gleichzeitig tun, unser menschliches Potenzial voll ausschöpfen. Und über allem stehen die Cybergurus, die uns Zeit als kostbares Gut verkaufen, als etwas, das aus unseren Lebensbezügen herausgelöst ist und zu einer bedrohten Ressource wird.

Zwischen Terminen, Verpflichtungen und zeitlosem Dauerfeuer wird Musik deswegen zum ultimativen Lifehack. Sie verspricht uns im einen Moment Antrieb und im anderen Ausgleich, während sie uns über einen emotionalen Hindernisparcours balanciert, den Apps und andere Anwendungen mit unseren Daten ausgesteckt haben. Wir verabreichen uns die richtige Dosis Musik zur richtigen Zeit und erhoffen uns davon den effizientesten Weg durch den Datendschungel. Und weil das – ganz im Sinne der neoliberalen Verwertungslogik – schnell passieren muss, präsentiert sich Musik für uns immer öfter als farblose Pille. Oder vielmehr als zwei zum Verwechseln ähnlich aussehenden Pillen, in deren Bruchlinien sich aufputschende Versprechen wie „Have a Great Day!“, „Mood Booster“ und „Happy Hits“ mit kontemplativen Gegenparolen à la „Chill & Relax“, „Stress Buster“ und „Alone Again“ abwechseln.

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„Verpass deinem Leben einen Soundtrack“

Der mächtige Produzent dieser Pillen wurde 2006 in Schweden gegründet und versorgt heute über 217 Millionen aktive Nutzer auf der ganzen Welt – mit „Musik für jeden Moment“, wie Spotify in seiner neusten Feel-Good-Werbekampagne verspricht. Egal ob im klimatisierten Großraumbüro, am Strand unter Palmen oder neben Muskelbergen an der Klimmzugstange – Spotify verordnet seinen Hörerinnen und Hörern ein personalisiertes, auf den Gemütszustand ausgerichtetes und direkt in die Gehörgänge gepumptes Gedudel, das einerseits zu Produktivität animieren und andererseits den eigenen Affekthaushalt regulieren soll. Wir schlucken die erste Pille am Morgen, um uns zu aktivieren. Wir spülen die zweite Pille am Abend runter, um uns irgendwie in den Schlaf zu wiegen. Was entsteht, ist ein geschlossenes System der Affektregulierung, das Bedürfnisse hervorruft, von denen wir nicht wussten, dass wir sie haben. Schließlich geht es nicht darum zu fragen, was einzelne Nutzer hören wollen, sondern was sie jetzt hören wollen. Und darin ist Spotify – mittels Analyse unserer Hörgewohnheiten – mittlerweile richtig gut. Musik wird zur ständig aktualisierten Fototapete. Ein konstantes Plätschern in Form stimmungsbasierter Playlists. Zwischen Songs für „Sommergefühle“ und der „Life Sucks“-Playlist sind es gerade mal zwei Klicks.

Das war nicht immer so. Im kürzlich erschienen Buch „Spotify Teardown: Inside the Blackbox of Streaming Music“, hat sich ein schwedisches Forschungsteam über mehrere Jahre mit Spotify auseinandergesetzt und unter anderem aufgezeigt, wie es zu dem geworden ist, was es heute ist: Eine Plattform, bei der es um vieles geht – aber nicht um Musik. Früher sei die Benutzeroberfläche von Spotify anhand von Suchoptionen für Songs organisiert gewesen. Nutzer konnten ganz gezielt nach Künstlerinnen und Künstlern suchen. Das funktioniere heute zwar immer noch. Allerdings ordne Spotify den Musikkonsum mittlerweile primär um Verhaltensweisen, Gefühle und Stimmungen, die durch algorithmisch kuratierte Wiedergabelisten und Motivationsbotschaften geleitet werden und sich täglich mehrmals ändern. „Lass es langsam angehen“, teilt die Plattform mit, sobald man sich einloggt, und bietet unmittelbar eine Auswahl an „Relax“-Playlists an, nur um direkt darunter schon wieder wissen zu lassen: „Konzentration – Beats, um fokussiert zu bleiben“. Wir dürfen uns also ausruhen, aber nicht zu lange, und am besten nur, um anschließend wieder mit neuer Kraft und geordneten Gedanken der kruden Lohnarbeit nachzugehen. Musik verkommt damit zu einem Mittel, um die eigene Stimmung zu boosten, sich zu verwandeln und immer mehr zu konsumieren – natürlich unter dem Deckmantel des Versprechens, uns nur das vorzusetzen, was wir wollen – ohne zu wissen, dass wir es wollten …

Vollständiger Artikel in der Printausgabe 

| FAQ 53 | | Text: Christoph Benkeser | Fotos: Magdalena Blaszczuk
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