Wien, Yppenplatz. Hierher geht man einkaufen. Exotische Früchte, zum Beispiel. Oder Bio-Gemüse. Oder auch türkische Süßspeisen. Dass man zwischen etwas verlebtem Lokalkolorit und bemühter Bobo-Kultur auch Fotografie von Weltrang erstehen kann, ist der Galerie anika handelt zu verdanken. Denn hier und nicht in einem der großen Museumshäuser präsentiert die österreichische Magnum-Legende Erich Lessing seine Werkschau „Cinema“ mit Fotodokumentationen von internationalen Filmsets, wie etwa The Sound of Music und Moby Dick. Unglaublich, aber wahr: Lessings cineastisch inspirierten Werke sind für die Kulturszene so etwas wie eine unentdeckte Nische. Dass Bilder, auf denen sich Schauspieler und Regisseure von Weltformat tummeln, bislang im Hintergrund bleiben konnten, spricht für die übrigen Facetten des Lessing’schen Œuvres. Es waren die beeindruckenden Dokumente vom Ungarn-Aufstand 1956, die zahlreichen Porträts von historischen Persönlichkeiten wie Charles de Gaulle, Herbert von Karajan oder Konrad Adenauer und natürlich die konsequente Auseinandersetzung mit Kunstwerken, die den gebürtigen Wiener berühmt machten. All das besaß offenbar so eine Strahlkraft, dass einige andere Aspekte des Arbeitsspektrums im Hintergrund bleiben konnten. Und nun also der Yppenplatz. Im ersten Moment mutet es seltsam an, dass ausgerechnet Ottakring zur Fundgrube für unterrepräsentierte Lessing-Kunst avanciert. Madrid. Paris. Oder vielleicht auch irgendeine biografisch konnotierte Stadt wie Budapest. Solche Metropolen würde man eher vermuten. Das hat mit Lessings internationaler Karriere zu tun. Aber auch mit seinen Erlebnissen ab 1939 …
Ein Besuch in Erich Lessings Büro im 17. Wiener Gemeindebezirk veranschaulicht sehr schnell den Status des mittlerweile 86-Jährigen. Vier Mitarbeiter kümmern sich an diesem verregneten April-Nachmittag um die Agenden des Fotografen, der ein gewaltiges Archiv und zahlreiche Termine zu verwalten hat. Zusätzlich ist die Galeristin von anika handelt zugegen. „Haben wir was verkauft? Können wir uns einen gemeinsamen Kaffee leisten?“, möchte Lessing wissen. „Eher ein sehr gutes Essen“. Die Antwort scheint Lessing zu gefallen. Er lächelt zufrieden und möchte nur noch die Öffnungszeiten seiner Ausstellung wissen. Dann wendet er sich unserem Gespräch zu.
11.30 Uhr, „faq“-Interview – gleich darunter befindet sich ein Hinweis auf ein Treffen mit einem Redakteur der „FAZ“: Hinter Erich Lessing hängen zahlreiche Zettel, die an Ausstellungseröffnungen und Interviews erinnern. Der Fotograf ist ein gefragter Gesprächspartner – einerseits wegen seiner eigenen Arbeiten, aber andererseits auch, weil er eines der letzten lebenden Aushängeschilder einer viel bewunderten Fotografen-Generation ist. Kaum ein Weggefährte aus den Anfangszeiten der Agentur Magnum ist heute noch am Leben. Deshalb muss Lessing für sie alle sprechen. Und das tut er mit viel Geduld und Ausdauer. Nach einer herzlichen Begrüßung fordert mich Erich Lessing auf: „Erzählen Sie!“ Das ist natürlich Koketterie, denn er ist es, der erzählen soll. Und das tut er dann auch. Zwischenfragen sind dabei nicht notwendig. Der Medienroutinier hat einen roten Faden. Und der beginnt 1939. Also in jenem Jahr, das Erich Lessing zur Flucht vor den Nazis zwingt. Der damals 16-Jährige stammt aus einer jüdischen Familie. Der Vater ist Zahnarzt, die Mutter Konzertpianistin. Von ihr weiß er, dass sie in den Gaskammern von Auschwitz ums Leben gekommen ist. Lessing schafft es mit gefälschten Papieren gerade noch nach Palästina und arbeitet dort in einem Kibbuz. Seine Aufgaben sind vielfältig, er züchtet Karpfen und baut mit einem Würzburger Kollegen künstliche Stromschnellen.
Eine etwas unorthodoxe Mission bringt Erich Lessing schließlich zu seiner späteren Berufung: Er wird Strandfotograf. „Das hat mich überhaupt nicht interessiert, brachte aber gutes Geld“, erinnert er sich an die ersten fotografischen Gehversuche, „außerdem war das eine herrliche Zeit, weil ich am Strand nicht nur fotografieren musste, sondern dort auch einfach herumgelegen bin.“
Bereits 1947 kehrt Erich Lessing nach Wien zurück – mit einer ordentlichen Portion Unwillen, weil er hier eigentlich nur auf ein Visum wartet, das ihn an die Filmakademie von Paris bringen soll. Aus ein paar Wochen wird doch ein längerer Zeitraum. Einerseits, weil die französischen Beamten sehr selektiv mit Aufenthaltsgenehmigungen umgehen. Andererseits, weil Lessing eine neue Mission gefunden hat: Er geht auf Spurensuche. Der Tod der Mutter in Auschwitz ist schon vor der Rückkehr Gewissheit – die Ermordung der Großmutter in Theresienstadt ebenfalls. Doch wie erging es dem Rest der Familie? Erich Lessing recherchiert. Gleichzeitig forscht er mit Hilfe auskunftswilliger Sozialisten ehemalige Plünderer und Nazis aus, die sich am Eigentum der Familie bedient haben. Von ihnen holt er sich einige Möbelstücke zurück. Auf die Details geht er nicht näher ein. Man merkt, dass die Trauer auch über sechs Jahrzehnte danach noch präsent ist. Deshalb setzt Erich Lessing seinen Erzählstrang zügig fort – teilt lieber die Erinnerung an den Einstieg ins Berufsleben als an die Skrupellosigkeit im Dritten Reich.
Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, klappert der junge Fotograf ab 1947 sämtliche Fotoagenturen in Wien ab, um schlussendlich bei Associated Press zu landen. Das Engagement bei der internationalen Agentur ist der Auftakt zu einer jahrzehntelangen Reise durch die Weltgeschichte. Den Anfang machen jedoch die Aufbaujahre in der österreichischen Bundeshauptstadt. „1950 war’s mir dann fad in Wien“, erinnert sich Erich Lessing. Es war also allerhöchste Zeit, um neue Herausforderungen zu suchen.
Von Wien zog es Erich Lessing nach München. Denn hier und im gesamten übrigen deutschen Bundesgebiet entstanden Anfang der Fünfziger Jahre zahlreiche Zeitschriften, die nur einen Wunsch kannten: Möglichst viele Seiten mit möglichst spektakulärer Fotografie zu füllen. „Der Hunger, etwas außerhalb der eigenen Grenzen zu sehen, war nach dem Krieg riesig, der Markt war ungeheuer groß“, erinnert sich Lessing an die Zeit in Deutschland, „wenn man halbwegs was konnte, hatte man es leicht, Aufträge zu bekommen.“ Titel wie „Quick“ kauften Bilddokumente direkt aus den Koffern der Agenturen. Für heutige Fotografen nahezu undenkbar: „Man wurde gefragt: ‚Wohin wollen sie fahren?‘ Danach hieß es: ‚Gehen Sie zur Kassa, holen Sie sich 3000 Mark und kommen Sie gesund wieder zurück.‘“ Eine von Lessings ersten großen Reisen führte ihn nach Spanien. Über eine amerikanische Telefonleitung informierte der Jungfotograf seine Frau, eine Journalistin, die in Wien geblieben war und ihren Mann nun auf seinem Auftragsjob in südliche Gefilde begleitete. Um sich einen neuen Fiat E für die lange Reise leisten zu können, machte das Paar einen wertvollen Kasten zu Geld. Das vorherige Auto verdankte Lessing übrigens Leopold Figl höchstpersönlich, der seinerzeit einen Bezugsschein ausgestellt hatte.
Spanien repräsentierte den Auftakt zu vielen Foto-Reportagen, die Erich Lessing letztendlich weltberühmt machten. Lessings „USP“: Er wählte von Anfang politische Zugänge und lieferte auf diese Weise nicht nur ästhetisierte Bilderlebnisse, sondern vor allem geschichtliche Dokumente aus aller Welt. „Ich bin ein politisches Wesen! Politik hat mich nicht nur interessiert, sondern regelrecht fasziniert. Ich habe immer versucht, meine Arbeiten auf der politischen Reportage aufzubauen. Afrika, die kommunistischen Staaten, vier Monate in den Kohle-Minen Europas und natürlich die Türkei … im Vergleich zu heute ein komplett anderes Land. Die Türkei war damals eine sekuläre, fortschrittliche, bürgerliche Nation mit einem ungeheuren Erneuerungsschub. Was man in Europa nicht versteht: Das Militär war dort die wahre Bastion für eine demokratische Gesellschaft … solche Dinge haben mich interessiert.“
Lessing hielt all das fest. Sein großes Glück: „Ich war mit diesem Interesse praktisch allein.“
1951 folgte der nächste – für die Legendenbildung wahrscheinlich sogar wichtigste – Schritt in Erich Lessings Karriere: Er wurde Mitglied der berühmten Pariser Fotoagentur Magnum, die vier Jahre zuvor von den Zelebritäten Robert Capa, Henri Cartier-Bresson, David Seymour und George Rodger als selbstbestimmte Fotografen-Kooperative gegründet worden war. Noch heute zählt Magnum zu den meistbewunderten Institutionen der Branche – nicht zuletzt auch wegen des humanistischen Anspruchs, den man in die Fotografie eingeführt hatte. Doch wie „legendär“ war die Stimmung wirklich, wenn man inmitten des Gründungsquartetts arbeitete? Lessing hat darauf eine ganz simple Antwort: „Es waren herrliche Zeiten, man kann das Klima fast nicht beschreiben.“ Neben den hochwertigen Arbeiten der Magnum-Riege sorgte schon immer der Glamour der Agentur für jede Menge Gesprächsstoff. Zu Recht, wie Erich Lessing anklingen lässt: „Wir waren alle rund um die 20, viele hatten Freundinnen, die sie im Pariser Büro zum Bilderordnen einteilten, damit sie mit der anderen Freundin auf Reportage fahren konnten. Eine der herrlichsten Geschichten war, als Robert Capa reinkam, unrasiert und voller Lippenstift. Daraufhin versuchte Henri Cartier-Bresson dem Capa unauffällig zu sagen, dass er überall Lippenstift hat. Der Capa ist dem Bresson aber ununterbrochen aus dem Weg gegangen – das war fast schon ein Ballett. Bis der Capa schließlich lachend gesagt hat: Henri möchte mir seit zehn Minuten sagen, dass ich voller Lippenstift bin. Nur zur Information: Ich weiß es!“
Neben den etwas chauvialen Frauengeschichten trug vor allem der scheinbar grenzenlose Umgang mit Fotografie zum mythischen Image von Magnum bei. „Geld spielte keine Rolle – the sky was the limit“, umschreibt Erich Lessing die Losung früher Magnum-Tage. Als zum Beispiel die Meldung aufgeschnappt wurde, dass eine Heuschreckeninvasion von Saudi-Arabien auf Persien übergreifen könnte, fuhr Lessing einfach auf gut Glück hin. Seine Erinnerungen aus den abgelegenen Regionen des heutigen Iran würden wahrscheinlich viele Seiten füllen – die dazugehörigen Bilder haben es schon getan.
Verklärung könnte sich breit machen, wenn ein 86-Jähriger solche Geschichten erzählt. Doch Erich Lessing ist immer auch bemüht, den eigenen Legenden-Status zu relativieren. So führt er zum Beispiel die Anekdote von einer Magnum-Generalversammlung vor drei Jahren ins Treffen, bei der er – mittlerweile einsam unter den vielen jungen Gesichtern – das Wort ergriff, um über die Zukunft des ökonomisch etwas angeschlagenen Kollektivs zu reflektieren. „Als ich fertig war, schaute mich Susan Meiselas (Fotografin, Anm.) an und sagte: ‚Erich, was du da erzählst, ist ungeheuer interessant. Aber dasselbe hast du schon 1952 gesagt.‘“ Lessing muss über sich selber lachen. „Die Welt hat sich einfach geändert“, resümiert er friedfertig, um danach ein großes Wort gelassen auszusprechen: „Die Reportage ist einfach tot.“
Was ist es nun, dass Erich Lessing und seine „Cinema“- Fotograf en an den Ottakringer Yppenplatz gebracht haben? Warum nicht in ein großes Museum? Oder zumindest in eine internationale Galerie?
Die Frage, ob sich Erich Lessing als Handwerker oder Fotograf sieht, liefert wohl am ehesten die passende Antwort. „Ich glaube, dass das eine sinnlose Diskussion ist. Ich bin ein Zuschauer. Mein Leben besteht aus dem Zuschauen und Mitleben … Schauen Sie sich doch mal um, ich habe nicht einmal eine Kamera da.“
Und als ob er das Klischee des l’art-pour-l’art-getriebenen Museumskünstlers endgültig widerlegen wolle, steckt Erich Lessing einen sehr pragmatischen Genrebegriff ab: „Fotografie ist für mich ein wunderbares Medium, um zu reisen und Menschen kennenzulernen. Sie ist aber nicht der Hauptinhalt des Lebens. Der Hauptinhalt des Lebens ist leben. Die meisten Fotografen sehen die Welt immer nur durch den Sucher.“ Aus genau diesem Grund passt eine Lessing-Werkschau mit weltberühmten Motiven auch auf den unprätentiösen Yppenplatz. Und aus genau diesem Grund freut sich der Fotograf, wenn seine Galeristin ein „sehr gutes Essen“ in Aussicht stellt. Nicht umsonst stellt er am Ende unseres Gesprächs fest: „Wir haben uns früher in die besten Restaurants einladen lassen. Die Jungen wissen hingegen gar nicht mehr, was Wein ist. Das ist überhaupt nichts Negatives … das ist einfach eine ganz andere Generation.“