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Der kreative Berserker

Text: Jörg Schiffauer | Fotos: Filmladen

„Enfant terrible“ macht die Faszination des Rainer Werner Fassbinder deutlich – in Leben und Werk.

Würde man bei dem Versuch, Rainer Werner Fassbinder zu charakterisieren, das Adjektiv „produktiv“ verwenden, käme dies einer gewaltigen Untertreibung gleich. Allein der Umfang seines Schaffens nötigt Bewunderung ab, inszenierte Fassbinder bis zu seinem frühen Tod im Juni 1982 – da war er gerade einmal 37 Jahre alt – über 40 Filme, zwei Fernsehserien, arbeitete am Theater, verfasste eine Reihe von Stücken und absolvierte Auftritte als Schauspieler. Dass Fassbinder mit seinem filmischen Œuvre einige der wichtigsten Beiträge des Neuen Deutschen Kinos ablieferte, sei nur der Vollständigkeit halber angemerkt.

Die Auseinandersetzung in Gestalt eines Biopics mit dem außer-gewöhnlichen Leben dieses außergewöhnlichen Charakters, der schon Gegenstand zahlloser Betrachtungen, Analysen und Exegesen war, ist also ein durchaus kühnes Unterfangen. Oskar Roehler, der mit Die Unberührbare ein brillantes Künstlerporträt (kaum verklausuliert beleuchtete er darin die letzten Lebensjahre seiner Mutter, der Schriftstellerin Gisela Elsner) in Szene gesetzt hat, geht dieses Wagnis mit Enfant terrible ein – was sich als Glücksfall erweist.

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Von den Anfängen Fassbinders am Münchner Action-Theater, einer Off-Bühne, im Jahr 1967 rückt Roehler signifikante Stationen ins Bild. Deutlich wird dabei die Getriebenheit eines kreativen Kopfes, die sich in Fassbinders geradezu unfassbarer Arbeitswut – so drehte er in einem einzigen Jahr gleich sieben Filme – niederschlug, ebenso wie das Faszinosum, das von ihm ausging. Dabei tritt ein flamboyanter Charakter mit all seinen Facetten und Ambivalenzen zu Tage. So verstand es Fassbinder, eine Gruppe höchst unterschiedlicher Charaktere – zu den langjährigen Weggefährten zählten u. a. hoch begabte Schauspielerinnen wie Hanna Schygulla, Irm Herrmann, Margit Carstensen, Ingrid Caven oder die Kameramänner Dietrich Lohmann und Michael Ballhaus – um sich zu versammeln und so zu begeistern, dass sie ihm auf jedes künstlerische Abenteuer folgten, so fordernd dies auch sein mochte. Es gab aber auch jenen Rainer Werner Fassbinder, der launisch und herrisch auftreten konnte, seine Mitstreiter in den Himmel hob und ihnen künstlerische Höchstleistungen abzuringen verstand, sie aber auch mit psychischer Grausamkeit demütigen konnte. Dazu kam noch ein – vorsichtig formuliert – turbulentes Privatleben, dass immer wieder mit Fassbinders Arbeit verknüpft war.

Die Stimmigkeit von Enfant terrible ist zu einem nicht geringen Teil einem großartigen Ensemble – Hary Prinz als Kurt Raab und Katja Riemann stechen nochmals hervor – geschuldet, Oliver Masucci verkörpert Rainer Werner Fassbinder mit einer schauspiele- rischen Tour de Force sondergleichen. Mit dem inszenatorischen Kunstgriff, die theaterhaft anmutende Künstlichkeit der Kulissen streckenweise zu betonen, gelingt es Roehler, jene für Fassbinders Filme so charakteristische Stilistik zwischen spröder Reduktion und melodramatischer Opulenz kongenial widerzuspiegeln und Enfant terrible als vielschichtiger Hommage eine treffliche formale Ebene zu verleihen.

ENFANT TERRIBLE

Biopic, Deutschland 2020 – Regie Oskar Roehler

Drehbuch Klaus Richter Kamera Carl Friedrich Koschnick Schnitt Hanjsörg Weißbrich

Mit Oliver Masucci, Hary Prinz, Katja Riemann, Erdal Yildiz, Jochen Schropp, Eva Mattes, Michael Klammer, Isolde Barth

Verleih Filmladen, 134 Minuten

Kinostart 2. Oktober 2020

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