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DER UNSICHTBARE RAUM

Der vielseitige Körperkünstler Simon Mayer verhandelt im brut nordwest mit dem Programm „Bones & Wires“ Fragen nach sichtbaren und unsichtbaren Realitäten.

Foto: Franzi Kreis

Der gebürtige Oberösterreicher Simon Mayer ist ein Mann vieler Talente: So war er bereits als Performer, Choreograf, Schauspieler, Bühnenbildner und Musiker tätig; zu seinen künstlerischen Stationen zählt u. a. das Staatsopernballett. Spätestens seit seinem Stück SunBengSitting ist Mayer auch als Körperkünstler international bekannt. In seinem neuesten Werk Bones & Wires beseelt er im Oktober im brut nordwest Gegenstände wie einen Klavierhocker oder ein Drum-Set. Welche Formen der Verbundenheiten sind möglich? Wie wird in Zukunft Robotik und Biotechnologie unseren Alltag prägen? Werden wir für Roboter und Maschinen unsere Umwelt algorithmusfreundlich vereinfachen müssen? Ein ausführliches Gespräch über Gegenwarts- und Zukunftsfragen.

Den Körper als Automat – vorhersehbar und steuerbar –, so verstanden ihn in der Geschichte zum Beispiel René Descartes, Thomas Hobbes oder Julian Offray de LaMettrie. Das rein materialistische, mechanistische Weltbild scheitert aber an der Biologie, denn Leben ist unvorhersehbar, beruht auf nicht-linearen, selbstorganisierenden Kreislaufprozessen. Welche Prozesse haben dich zur Entwicklung deines neuen Solo-Stückes Bones & Wires geführt?

Simon Mayer: Das Virus. Unter anderem. Eine Lebensform – so klein, dass man sogar darum streitet, ob es ein Lebewesen ist. Wie David gegen Goliath legt dieses winzige Wesen, welches auch noch fast unsichtbar ist, einfach die Lebensform lahm, die noch immer von sich glaubt, das Zentrum der Welt zu sein: den Menschen. Ähnlich ergeht es mir bei den Proben zu Bones & Wires. Wir sind umgeben von Technologie und Robotern, und manchmal ist einfach der Hund drin. Und der bellt in Form eines Errors oder eines Virus im System. Da flackern dann irgendwelche Lichter und der Roboter auf der Bühne spielt verrückt und keiner von uns Menschen – Künstlern und Technikern – weiß warum. Uns bliebt nichts anderes übrig, als das Virus oder den Error als Teil unseres Systems und Teil des Bühnenstücks zu akzeptieren. Das hat dann zur Folge, dass wir Menschen nicht mehr im Zentrum der Kreation stehen. So beschäftigen wir uns in Bones & Wires mit unsichtbaren und sichtbaren Realitäten, mit Kabeln und „Wirelessness“, mit Netzwerken und kollektivem Bewusstsein und vor allem mit dem Körper als Automat und Lebewesen; dem Hybrid aus Mensch und Maschine, Instrument und Tier, Möbelstück und Lebensform. Bones steht als Symbol für das Sichtbare, das Skelett, die Form und die Materie. Wires, oder besser gesagt, Wireless, für das, was wir mit freiem Auge nicht erfassen können. Für eine Art der Verbundenheit, die es ohne und mit Technologie zu erforschen gilt. Wir bauen ein Netzwerk – sichtbar und unsichtbar – aus Mensch, Instrument, Maschine, Roboter, die miteinander kommunizieren. Das Virus und der Error sind Teil dieses großen Wesens und des Bio-Automaten des performenden Mensch-Maschine-Hybrids.

Der Leiter der technischen Entwicklung bei Google Raymond Kurzweil schreibt über Transhumanismus, technologische Singularität und Zukunftsforschungen. Waren seine Visionen für dich inspirierend, oder doch eher spekulative Fiktionen à la Donna Haraway?

Raymond Kurzweil kenne ich nicht. Donna Haraway finde ich auf Basis der Tier-Mensch-Forschungen inspirierend für das Stück. Denn ein wichtiges Erlebnis, das in Bones & Wires mit hineinspielt, ist definitiv die Quarantänezeit. Darüber nachzudenken, wie eine Quarantäne in 100 Jahren aussehen wird. Was man im Moment erleben konnte, war: mit dem eigenen Haustier gemeinsam in Quarantäne zu sein, und diese Beziehung genauer zu betrachten. In anderen Fällen war es kein Haustier, sondern ein Staubsauger-Roboter, ein Thermomix-Küchenroboter oder ein Rasenmäher-Roboter. Es entstand plötzlich eine Nähe zu Tieren und Alltagsgegenständen. Und unter anderem zu Robotern. Dieses Phänomen fand ich spannend, daher der Untertitel „Die Seele der Dinge“.Dinge bekommen durch diesen Bewusstseinswandel eine Seele eingehaucht. Diesbezüglich sind die Beobachtungen zum Zusammenleben von unterschiedlichen Spezies von Donna Haraway auf jeden Fall wichtig. Und in unserem Fall vor allem – mit mir als Performer und Hybrid –, wie der Mensch nicht mehr im Mittelpunkt steht. Das Licht wird zur Tanzsolistin oder das Klavier zum Schauspieler, der einen Monolog erzählt. Es geht um Interaktions-Möglichkeiten und um das Bauen eines Netzwerkes. Wer ist die Quelle für einen Impuls? Spielt das Klavier, weil ich mich bewege oder bewege ich mich, weil das Klavier spielt? Spielt mich das Klavier oder spiele ich das Klavier?

Foto: Franzi Kreis

Der britische Evolutionsbiologe Richard Dawkins hat 1976 eines der meistgekauften Wissenschaftsbücher geschrieben. In „The Selfish Gene“ („Das egoistische Gen“) schreibt er zum Beispiel: „Wir sind Überlebensmaschinen, Roboter, blind programmiert zur Erhaltung der selbstsüchtigen Moleküle, die Gene genannt werden.“ Dieses technokratische Weltbild kontrastiert sehr stark mit anderen Kosmologien und Weltbildern in anderen Regionen dieser Erde, aber auch mit Vorstellungen, die in Europa noch vor dem 17. Jahrhundert in der Renaissance vorherrschten. Johannes Kepler glaubte zum Beispiel an eine Anima terrae, an eine Seele der Erde. Welches Weltbild würdest du für dich entwerfen?

Buddhistische Philosophie und ähnliche Richtungen dienen als Inspiration. Daher finde ich ein Weltbild spannend, in dem man das Leben und die Lebendigkeit in allem entdecken kann. Um diese Entdeckungen zu machen, braucht es aber einiges an Praxis und Training, um den Kontakt zu sich selbst wieder herzustellen. Wie können wir das Gespür für den eigenen Körper wiederfinden, um auch die Verbindung zum Außen, zu anderen Menschen und zur Natur wirklich wahrzunehmen? Verkörperung ist in diesem Weltbild ein wichtiges Stichwort. Gar nicht so einfach, wenn man durch unser körper- und gefühlsfeindliches Bildungs- und Arbeitssystem durchgeschleust wird. Die Tendenz lautet ja immer noch: „funktionieren statt fühlen“. Das Thema Verbundenheit und Interdependency ist in Bones & Wires essenziell. Ich atme aus, der Baum atmet ein. Der Baum atmet aus, ich atme ein. Eine Welt, in der ich durch Atmen lerne – und nicht mehr nur im Buch lesen muss, dass die Natur schützenswert ist – die finde ich erlebenswert. In diesem Weltbild ist die Seele der Dinge der Seele der Menschen gleichgestellt. Gesehenes und ungesehenes werden gleichermaßen wertgeschätzt, und Kommunikation ist mehr als Worte.

Die unsichtbare Innenwelt, das Bewusstsein von Lebewesen bleibt doch rätselhaft und unerklärlich. Die Biosemantik ist aber davon überzeugt, dass das Verhalten von Lebewesen nicht durch mechanische Stöße bestimmt wird, sondern durch die Interpretation von Botschaften. Glaubst Du an so etwas wie einen Panpsychismus, an eine Vorstellung, dass tote Materie bereits Potenziale von innerem Erleben enthalten kann? An die Möglichkeit eines kollektiven Bewusstsein zwischen Menschen und Maschinen?

Da is er wieder, der Pan. Pan als Figur aus der griechischen Mythologie war bereits in meiner letzten Arbeit Being Moved eine Inspiration. Dank an Dominik Strzelek, der mich auf Pan aufmerksam gemacht hat! Da es in Bones & Wires wie gesagt auch um Hybride geht, ist Pan – ein Mensch-Bock-Hybrid – auch in diesem Stück wieder dabei. Auch im Sounddesign mit einem ganzen Haufen Pan-orama-Spielereien. Schön, von einem Panpsychismus zu erfahren. Das kollektive Bewusstsein der Menschen, aber viel mehr noch eines, das alle Wesen und Materie – Maschinen, Tiere, Viren – umfasst, ist ein spannendes Forschungsthema, welches mich schon länger beschäftigt. Ja, ich bin überzeugt davon, dass es sowas gibt. Gerade durch Versuche in der Bewusstseins- und Trance-Forschung, die ich mit Corine Sombrun und Karoline Maria Wibmer mache, lassen sich mittlerweile recht gute Einblicke gewinnen.

Siehst Du im Digitalen Humanismus einen gangbaren Weg, den Menschen wieder mehr ins Zentrum von technologischen Entwicklungen zu rücken?

Der Mensch sollte wie sein Geist einfach einmal seinen ihm zustehenden Platz einnehmen. Und der ist definitive nicht im Zentrum. Im Bezug auf Digitalen Humanismus finde ich natürlich gut, dass man auf menschliche Werte achtet, und Mitgefühl nicht durch 0 und 1 ersetzt. Aber wer sagt denn, dass die menschlichen Werte der Weisheit letzter Schluss sind? Was mir in den Debatten fehlt, ist ein Lernen vom Virus. Die Miteinbeziehung des Unbekannten in dem ganzen Spiel. Was passiert, wenn man den Moment, in dem sowohl ein Mensch als auch eine Maschine einmal nicht funktionieren oder das machen, was man will, genauer beobachtet? Wenn man den Raum zwischen 0 und 1 in die Intelligenz von Maschinen miteinbezieht?
Ist das Virus, der Error oder Fehler und die manchmal auch unerklärliche Quelle des Fehlers Teil dieser Intelligenz und Teil der Ko-Kreation zwischen Mensch und Maschine? Man darf sich als Mensch nicht anmaßen, alles zu wissen. Es gibt Intelligenzen, zu denen wir einfach noch keinen Zugang – oder keinen mehr – haben. Inklusive unserer eigenen. Daher lassen wir in Bones & Wires immer wieder die Dinge sprechen. Hierbei ist die erste Frage immer: „Was würdest du mir gerne beibringen?“

Der berühmte Naturforscher Isaac Newton hat eine bis heute ungeklärte Fernwirkung entdeckt, nämlich, dass Gravitation auch durch den leeren Raum wirkt. Seine Zeitgenossen haben ihm damals okkulte Ideen vorgeworfen. In einem Brief an den Philologen Richard Bentley schrieb er 1692 verzweifelt: „Dass ein Körper auf einen anderen über eine Entfernung durch das Vakuum hindurch und ohne die Vermittlung von etwas Sonstigem wirken soll, ist für mich eine so große Absurdität, dass ich glaube, kein Mensch, der eine in philosophischen Dingen geschulte Denkfähigkeit hat, kann sich dem jemals anschließen.“ Welche für andere Menschen vielleicht absurden Erlebnisse oder Erkenntnisse hast du im Laufe deiner intensiven Beschäftigung mit dem Körper und seiner Wahrnehmung erfahren? Was interessiert dich an dem Phänomen der Telepathie? Könnte man sie als eine Gravitation zwischen Gedanken bezeichnen?

Mich interessiert der Raum dazwischen. Ein Begriff, den Karoline Maria Wibmer, Coach und Beraterin bei Bones & Wires, pflegt. Dieser Raum wird oft als nicht-existent und absurd gesehen. Dabei ist der Raum, wo all die Information, die ungesehen zwischen uns fließt, stets präsent. Als würden wir die Luft, die einer ausatmet und der andere vielleicht wieder einatmet, sehen. Der unsichtbare Raum zwischen dir und mir, wenn wir uns unterhalten oder ansehen. Der Raum von Ko-Kreation. Ein Raum, der mehr gefühlt als verstanden werden kann. Wenn ich zum Beispiel mit Jan Fedinger (Licht) oder Moritz Nahold (Sounddesign) im kreativen Austausch bin, entsteht ein Flow. Ideen und Visionen beginnen im Zwischenraum zu tanzen, weil wir miteinander in Resonanz gehen. Wie Instrumente, die miteinander zu schwingen beginnen. Man könnte das auch einen Mitgefühl-Raum nennen. Das Teilen vom Fühlen des anderen, während man sich selber fühlt. Diese Zwischenräume lesen und sehen lernen, kann vielleicht zu einer Art telepathischer Fähigkeit führen.
Ein Rechercheprojekt zu dieser Art von Verbindung und Synchronizität zwischen Performern und Publikum plane ich gerade mit dem Center for Cognitive Neuroscience Salzburg und Liege, der MDW Wien und dem Trance Science Institut Paris.

Wir befinden uns leider auch existenziell in einem Zwischenraum. Keine menschliche Zivilisation hat je eine solche existenzbedrohende, globale Krise herbeigeführt, und die Hauptursachen dieser Situation sind ein Wirtschaftssystem, das auf endloser Akkumulation von Kapital und Expansion beruht, sowie ein technokratisches Naturverständnis, das die Natur zu einem getrennten, ausbeutbaren Objekt macht. Siehst du trotzdem optimistisch in die Zukunft der Menschheit?

Ja. Und darum geht es auch im Stück. Wie können Mensch, Maschine und Natur friedlich zusammenleben? Welche Möglichkeiten haben wir, sowohl die menschlichen Ressourcen des Bewusstseins zu erweitern und zu erforschen – zum Beispiel durch Trance –, als auch den Weg gemeinsam mit anderen Wesen wie Robotern, Tieren und Pflanzen zu gehen?

Simon Mayer, Bones & Wires
23. bis 27. November 2021, 20 Uhr
Mehr Information: brut-wien.at

 

| FAQ 62 | | Text: Michael-Franz Woels
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