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Der Weg ist das Ziel

Text: Jörg Becker | Fotos: Thomas Hoepker

Ein Film – ein Buch – eine Ausstellung des Jahrhundertfotografen Thomas Hoepker.

Thomas Hoepker The Way it was. Road Trips USA © 2022 Thomas Hoepker for the photographs Book published by Steidl 2022

Thomas Höpker war siebenundzwanzig, als ihn die Illustrierte „Kristall“ 1963 nach Amerika schickte. „Schauen Sie sich um“, lautete der knappe Auftrag. Er führte ihn von Küste zu Küste durch nahezu die Hälfte aller Bundesstaaten. Drei Monate später kam er mit Tausenden von Schwarzweißaufnahmen zurück: vor allem von Menschen in ihrem Alltag. Fotografiert in den Großstädten, aber auch im Hinterland. Nach einer steilen Karriere zunächst bei der Illustrierten „Stern“, später bei der Agentur Magnum, deren Präsident er lange Zeit war, setzte er sich in New York zur Ruhe. Im Jahr 2020 beschloss Höpker, mittlerweile vierundachtzig Jahre alt, die Tour von damals noch einmal zu unternehmen.

What is America?

Der Titel lässt an die erste Zeile eines Tagebuchs denken, die Eröffnung eines Briefs, den man an sich selbst schreibt: Dear Memories. In einem kleinen Haus auf Rädern verbringen Thomas Hoepker und seine Frau Christine Kruchen Ende 2020 zehn Wochen auf einer Reise durch die Vereinigten Staaten, ausgehend von Long Island, New York in Richtung Westen, from coast to coast, begleitet von einer Filmcrew im eigenen Wagen, dem Team, das dokumentiert, wie der bedeutende Fotograf und Bildjournalist noch einmal Amerika begegnet, auf Orte, Landschaften und Leute an jenem Weg reagiert, auf dem er 1963 als „Staff Photographer“ für das Hamburger Magazin „Kristall“ das erste Mal diese Tour quer über den Kontinent unternommen hatte, mit der seine Karriere als Reportagefotograf einen beträchtlichen Sprung machte. In einem Oldsmobile bewegte man sich, Hoepker zusammen mit seinem schreibenden Kollegen, dem Journalisten Rolf Winter, seinerzeit von der Ostküste über Washington, Atlanta und New Orleans, Dallas und Butte, Las Vegas und Los Angeles bis nach San Francisco und kehrte via Reno, Detroit, Chicago und Boston zurück nach New York. Auf jener Expedition entstanden Tausende von Fotos, das Magazin brachte eine ausgiebige, fünfteilige Reportage, die unter dem Titel „What is America?“ begann.

Thomas Hoepker The Way it was. Road Trips USA © 2022 Thomas Hoepker for the photographs Book published by Steidl 2022

„The Way it was“

Der Bildband „The Way it was. Road Trip USA“ verschränkt nun die beiden Unternehmungen und setzt zwischen Hunderte seiner längst historischen Aufnahmen die digitalen Farbfotografien von heute. So nimmt das Buch den Betrachter mit auf eine Entdeckungsreise, die zugleich durch den gesamten Kontinent wie durch die Zeit führt. Den Titel des Buchs entdeckt man auf einem darin enthaltenen Foto von einer verwitterten Billboard-Werbung in wüster Hügellandschaft, Beispiel jener typisch amerikanischen Werbeflächen-Ästhetik, die motivisch ein eigenes Genre bildet und einst wie jetzt mit dem Bild der Vereinigten Staaten verbunden ist (Sunset Magazine Says „The Way it was is Authentic & Fascinating & The Best You Will Spend During Your Visit“ – $ 4.00). Ein kleines Plakat verheißt entlang des heutigen Road Trips durch die Heartlands der USA „The silent majority stands with TRUMP“, Touristen in Liegestühlen wenden sich dem „Naturtheater“ des Death Valley zu, und auch die Autofriedhöfe, sie gehören damals wie heute zu den Sinnbildern der USA. Das Motiv der Reise gilt immer auch als Symbol des Lebensverlaufs, der Suche nach dessen Bedeutung und Erinnerung. Nun ist Thomas Hoepker dabei, sein Gedächtnis zu verlieren, die Diagnose lautet Alzheimer, so dass das Revival jener frühen Fahrt durch die USA einem Versuch zur Aktivierung des Kerns gleichkommt, dem Experiment einer Gegenbewegung zum Verwaschen und Ausfransen des Gedächtnisses, womöglich einer Reanimation, den Krankheitsverlauf aufzuhalten. Der Road- und Retro-Trip zeigt den 84-Jährigen als Fotografen, der nach wie vor Bilder nicht nur zu komponieren versteht, sondern auch eine Story erzählt und, vor fast sechzig Jahren durchweg in Schwarzweiß, nunmehr ganz der Farbfotografie hingegeben, eine Haltung zum Gegenstand beschreibt. Es sind Bilder, denen man ansieht, wie sehr Hoepker seiner Kamera verbunden geblieben ist und in bildlichen Kategorien denkt, auch wenn das Erinnerungsvermögen ihm allmählich abhandenkommt. Immer noch vermag er die Welt wie eine Serie von Stills aufzufassen, für Blickmomente die Kamera vor sein Auge zu heben, den Auslöser zu drücken und weiterzugehen, den richtigen Moment abzupassen, oder etwa aus dem fahrenden Auto heraus ein Schild am Straßenrand kommen zu sehen, auf dem ein afrikanisches Sprichwort steht, und es im Bild aufzufangen: „If you want to go quickly, go alone. If you want to go far, go together.“

2020 bildet den ersten Stopp auf der Reise die Terrasse in Williamsburg am Ufer des East River, wo Hoepker am 11. September 2001 fünf junge Leute, unter blauem Himmel miteinander im Gespräch, aufgenommen hatte, während im Hintergrund schwarzer Rauch und Aschewolken von den brennenden Twin Towers des WTC aufsteigen, während diese Türme kollabieren. Ein „auf schockierende Weise ambivalentes“ Jahrhundertbild, so Hans-Michael Koetzle, eine Ikone. Hoepker war sehr weit weg vom Ereignis, oder, wie er es einmal, anlässlich der Wiener Ausstellung „100 Jahre Leica“ in „WestLicht. Schauplatz für Fotografie“ (2015/16) artikulierte: „zur rechten Zeit am falschen Platz“.

Dear Memories – Eine Reise mit dem Magnum-Fotografen Thomas Hoepker © granvista

Dear Memories – Eine Reise mit dem Magnum-Fotografen Thomas Hoepker © granvista

„The Americans“

Die einst fotografierten Locations besitzen in dem 2020/21 produzierten Film Dear Memories eine bühnenhaft anmutende Qualität, zumal in den Bildern eine Leere der Außenschauplätze spürbar ist, die mit der Covid-Pandemie einherging. Das grassierende Virus machte es schwierig, Menschen kennenzulernen auf dieser Reise.

Kurz bevor er 1963 in die USA aufbrach, war Thomas Hoepker auf den Fotoband „The Americans“ gestoßen, jenes bahnbrechende Opus des gebürtigen Schweizers Robert Frank, der von April 1955 bis Juni 1956 zwischen New York und Kalifornien 48 Bundesstaaten bereist hatte in der Absicht, nichts Geringeres als „a cross-section of the American population“ zu dokumentieren: Eine kleine Auswahl aus einer Fülle von ca. 25.000 Fotos gelangte zwischen die Buchdeckel, charakterisiert von explosivem Ausdruck, radikaler Ästhetik, voller Unschärfen und diagonalen Horizontlinien, scheinbar angezogen von einer Düsternis, Leere und Freudlosigkeit vor Augen, die einem so gern verbreiteten offiziellen Amerikabild vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten sowie der Verfassungsklausel vom „pursuit of happiness“ so offensichtlich zuwiderliefen. Ausdruck von unerfüllten Träumen, falschen Versprechungen, betrogener Liebe? Das blieb nicht ohne Einfluss auf ihn, wie man sieht. Thomas Hoepker, wie Frank Jahre zuvor, hielt während seiner ersten Amerikafahrt Momente fest, die ähnlich von Enttäuschungen zeugen angesichts der evidenten Rassentrennung im Land, einem Elend inmitten aller Warenfülle, einer unerhörten sozialen Polarisierung …

Lesen Sie den vollständigen Artikel in der Printausgabe des FAQ 65

 

Dear Memories – Eine Reise mit dem Magnum-Fotografen Thomas Hoepker
Regie: Nahuel Lopez, Weltpremiere: 6. Mai 2022, 37. DOK.Fest München
Kinostart: 30.Juni 2022, Verleih: DCM.

Thomas Hoepker – Bilderfabrikant
Ernst-Leitz-Museum Wetzlar, bis 17. Juli 2022.

Thomas Hoepker
The Way it was. Road Trip USA
Hrsg.: Freddy Langer, Steidl Verlag, 192 Seiten,
460 Schwarzweiß- und Farbfotografien.
Vierfarbdruck, Leineneinband, März 2022

 

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