Paris ist die Welthauptstadt der Kultur. Die große Anteilnahme nach dem Brand der Kathedrale Notre-Dame hat das wieder einmal deutlich gezeigt. Das gotische Gotteshaus ist nicht nur ein beeinduckendes Gemäuer, es steht auch für eine reiche Geschichte, es hat Schriftsteller wie Victor Hugo oder Paul Claudel inspiriert, und es ist in den Fotografien von Eugène Atget bis in seine unheimlichen Details erforscht. Es wäre höchst spannend, die Figuren aus dem neuen Film von Olivier Assayas über den Brand von Notre-Dame diskutieren zu sehen. Es ist eine Szene, die man sich ohne Weiteres vorstellen kann, aber Zwischen den Zeilen (Doubles vies) war da schon längst fertig, und es geht dann doch vor allem um die Frage, ob die große französische Kultur vielleicht gerade zu Ende geht. Weil etwas Neues vor der Tür steht, oder eigentlich schon mitten im Zimmer: die digitale Informationsgesellschaft mit ihren vielen neuen Medien und ihren neuen Formen der Aufmerksamkeit.
Die Geschichte beginnt, wie es sich bei dem Thema gehört, mit einem Arbeitsessen. Der Autor Léonard (Vincent Macaigne) trifft sich mit dem Verleger Alain (Guillaume Canet), um über sein neues Buch zu sprechen. Léonard schreibt in einem Genre, das man als Auto Fiction bezeichnet. Er schreibt im Wesentlichen von sich selbst und seinen Erfahrungen, konkret heißt das meistens: von seinen Frauengeschichten. Er ändert zwar die Namen, aber in der Pariser Szene, in der jeder jeden kennt, ist es nicht schwer zu erkennen, von wem die Rede ist. Léonard und Alain unterhalten sich, das Gespräch schillert ein bisschen zwischen Höflichkeit und Ironie, erst ganz am Ende, und dann auch erst auf ungläubige Nachfrage, rückt Alain mit der harten Wahrheit heraus: er wird das neue Buch von Léonard nicht verlegen.
Seine Gründe sind vielschichtig. Im Grunde ist der ganze darauffolgende Film auch eine Erklärung dieser einen Entscheidung, von der auch nicht klar ist, ob sie verlegerisch richtig ist oder nicht. Um sie zu verstehen, müssen wir eine ganze Reihe weiterer Leute kennenlernen. Sie haben alle miteinander privat und beruflich zu tun, und, wie es einem Klischee über Paris entspricht, sie schlafen auch alle miteinander, in unterschiedlichsten Kombinationen. Eros und Intellekt sind in dem Paris, das Assayas hier zeigt, zwei Aspekte einer Sache. Alain ist mit einer Schauspielerin verheiratet, die sich immer wieder veranlasst sieht, ihre Rolle in einer Fernsehserie genau zu erklären: Selena (Juliette Binoche) spielt eben keine Kommissarin, sondern eine Krisenspezialistin, also eine Frau für besondere Fälle. Léonard wiederum ist mit Valérie (Nora Hamzawi) zusammen, einer Assistentin eines wichtigen Politikers. Sie ist auf eine nonchalante Weise selbstbewusst, und nimmt die Literateneitelkeiten ihres Partners nicht besonders ernst.
Die wichtigste jüngere Figur ist Laure (Christa Théret), die in dem von Alain geleiteten Verlag für die Digitalisierung zuständig ist. Sie kommt gerade von der Uni, und hat alles das drauf, worüber sich der literarische Betrieb in Paris gern noch ein wenig länger mokieren würde: sie weiß, wie man Twitter-Likes maximiert, und sie findet, dass Bücher auf Papier keine Zukunft haben. Alain ist ihr Chef, er lässt sich von ihr verunsichern, vertritt aber zugleich die Autorität eines Betriebs, der ein halbes Jahrtausend bestens funktioniert hat …
Vollständiger Artikel in der Printausgabe
Doubles vies / Zwischen den Zeilen
Drama/Komödie, Frankreich, 2018
Regie und Drehbuch Olivier Assayas
Kamera Yorick Le Saux Schnitt Simon Jacquet
Ton Nicolas Cantin, Daniel Sobrino, Aude Baudassé
Mit Guillaume Canet, Juliette Binoche, Vincent Macaigne, Nora Hamzawi, Christa Théret, Pascal Greggory
Verleih Filmladen, 107 Minuten
Kinostart 7. Juni