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Die Quadratur des Kreises

Das ImPulsTanz – Vienna International Dance Festival zeigt eine Neuinterpretation von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“, erdacht und gestaltet von der Ausnahmekünstlerin Anne Teresa De Keersmaeker und ihrem Co-Choreografen Radouan Mriziga.

Foto: Anne Van Aerschot

Flirrende Luft in der Sommerhitze, knackendes Eis in der Winterkälte, raschelnde Blätter im Herbstwind, zwitschernde Vögel im Frühlingsblühen und auch ein bellender Hund. Wer kennt sie nicht, die vier Violinkonzerte von Antonio Vivaldi, „Die vier Jahreszeiten“ genannt? Der Komponist selbst hat die Bilder entworfen, die er in Noten gesetzt hat. Im Frühling „tanzen Nymphen und Hirten“; im Sommer „toben Donner und Blitz am Himmel, der Hagel schlägt das große Korn nieder.“ Im Herbst ziehen die Jäger in den Wald, lassen die Hörner erschallen, „das Tier versucht zu fliehen, doch es stirbt.“ Im Winter heißt es „laufen und mit den Füßen stampfen. In der Kälte mit den Zähnen klappern“, dann aber locken „ruhige und glückliche Momente am Kaminfeuer.“

Schon vor 300 Jahren machte Vivaldi mit den „Quattro Stagioni“ Furore. Heute ist es Anne Teresa De Keersmaeker, die als Tänzerin und Choreografin seit 40 Jahren für Furore sorgt. Durch De Keersmaeker erstrahlt die Tanzwelt in neuem Licht, besser gesagt: in immer neuem Licht. Mit ihrer jüngsten Choreografie richtet sie die Scheinwerfer auf Antonio Vivaldi.
Der „Prete Rosso“, wie der Komponist und ausgebildete Priester in Venedig wegen seiner roten Mähne genannt wurde, brachte die Natur zum Klingen, Anne Teresa De Keersmaeker setzt den Klang in Bewegung. Gemeinsam mit dem belgisch-marokkanischen Choreografen Radouan Mriziga und der Barockgeigerin Amandine Beyer hat sie ein Tanzstück für vier Tänzer zu den „Vier Jahreszeiten“ entwickelt, das im Juli das Performance-Programm im Volkstheater eröffnet. Ab 15. Juni wird „Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione“ auf der Bühne zu sehen und zu hören sein. Der italienische Titel der Choreografie stammt von Vivaldi selbst. Er hat mit dem Titel seines „Opus 8“, eine Sammlung von Konzerten, in der auch die vier Violinkonzerte, genannt „Le quattro stagioni“, enthalten sind, seinen Plan festgehalten: „Das Wagnis von Harmonie und Erfindung“. Der Erfinder hat gewagt, ein außermusikalisches Programm mit den Anforderungen der Barockmusik zu vereinen – und natürlich gewonnen.

Foto: Anne Van Aerschot

De Keersmaeker wagt nicht nur eine Zusammenarbeit mit anderen Kunstschaffenden, sondern auch, etwas Neues zu einer alten, sattsam bekannten Komposition zu erfinden. Und, was ebenso Mriziga gut gefällt, die Tänzer auch ohne Musik in Bewegung zu versetzen. Wenn die Musik erklingt, dann vom Tonträger: Amandine Beyer und ihr preisgekröntes Ensemble, Gli Incogniti, führen nach Noten durch die Jahreszeiten und haben die musikalischen Bilder der „quattro stagioni“ im Studio aufgenommen. Die Tänzer haben den Takt und die Pausen in ihrem Körper gespeichert. De Keersmaeker geht von dieser Aufnahme aus und hat die Musik mit Pop-Status gemeinsam mit der Geigerin analysiert und zerlegt, um nicht in die Falle der abgenutzten, oft zu Werbejingles verkommenen Melodien zu geraten. Wie auch bei anderen Kompositionen, die die Choreografin zur tänzerischen Interpretation inspirieren, will sie zum Kern eines musikalischen Werks gelangen. Erst dann geht sie daran, die Bewegungsmuster zu kreieren.

Mit Amandine Beyer arbeitet De Keersmaeker gerne zusammen. Gemeinsam sind sie 2022 bei ImPulsTanz mit Heinrich Ignaz Franz Bibers „Mysteriensonaten“, auch „Rosenkranzsonaten“ genannt, aufgetreten; bei den Wiener Festwochen 2019 haben die beiden Künstlerinnen Johann Sebastian Bachs sechs „Brandenburgische Konzerte“ zu Gehör und Gesicht gebracht. Beyer ist damals vom B’Rock Orchestra begleitet worden. Auch den Choreografen Radouan Mriziga kennt sie schon lange. Nachdem er in Marokko und Tunesien studiert hat, ließ er sich in der von De Keersmaeker 1995 gegründeten Schule für modernen Tanz, P.A.R.T.S. (Performing Arts Research & Training Studio), einschreiben, wo er 2012 seinen Abschluss gemacht hat. Wie De Keersmaeker hält er es mit der Geometrie, mit Kurven und Linien, Kreisen und Spiralen, Parallelen, Ellipsen und Wirbeln, aber auch mit den Bahnen der Himmelskörper und den Strukturen in der Natur. Wie Vivaldi aus dem Mittelmeerraum kommend, ist er inmitten der differenzierten Ornamentik der islamischen Kunst aufgewachsen. Mit De Keersmaeker teilt der 20 Jahre Jüngere das Interesse an der Beziehung zwischen Raum und Körper, Architektur und Bewegung sowie an der Verbindung von Physis, Geist und Intellekt.

Foto: Anne Van Aerschot

Im Herbst 2021 gastierte Mriziga im Tanzquartier mit dem Mittelstück seiner Himmels-Trilogie „Ayur“ (Mond), die anderen beiden Teile, „Sonne“ und „Erde“, sind der Pandemie zum Opfer gefallen. In dieser Trilogie ist die Geometrie im Bühnenbild zu sehen, in anderen Werken tritt Mrizigas Liebe zur Mathematik schon im Titel zutage: „55“, „3600“ und „7“, Stücke, die einer genauen Geometrie folgen. Mit Anne Teresa De Keersmaeker hat er bereits 2020 zusammengearbeitet und während des Kunstenfestivaldesarts den Garten von La Maison des Arts de Schaerbeek mit „3ird5 @ w9rk“ zu einem persönlichen Treffpunkt und Arbeitsplatz verwandelt. Mriziga hat anstelle einer Compagnie die Plattform „A7LA5“ gegründet, die dem gemeinsamen Nutzen von Wissen, dem künstlerischen Austausch und dem Experimentieren dienen soll. Auch den Tanz will Mriziga, wie er sagt, einsetzen, „um dem Publikum Wissen zu vermitteln, das über die rein ästhetische Erfahrung einer Aufführung hinausgeht.“ Er nennt seine Performances gerne „performatives Wissen“. Doch wie De Keersmaeker stellt er auch Fragen. In Zeiten wie diesen liegen sie im Trend, und wenn „Il Cimento dell’Armonia e dell’ Inventione“ auch kein Klimastück ist, so fordert der Tanz der vier Männer zur Musik und in der Stille doch zum Nachdenken auf: Temperaturschwankungen, Wärme im Winter, eisiger Regen im Sommer und kein Frühling berechtigen zur Frage, ob wir überhaupt noch Jahreszeiten haben und auch, ob es angesichts der Klimakrise überhaupt noch angebracht ist, fröhlich und schön zu großartiger Musik im Kreis zu tanzen. Anne Teresa De Keersmaeker und Radouan Mriziga sind sich dieser Fragen wohl bewusst, doch sie geben keine Antworten, diese muss das Publikum selbst finden. „Tanz ist nicht nur verkörperte Feier und Trost, sondern auch Reflexion“, sagt De Keersmaeker im Programmtext für die Uraufführung in Brüssel.

Anne Teresa De Keersmaeker und Radouan Mriziga. Foto: Anne Van Aerschot

Während für sie meistens die Musik der Ausgangspunkt ihrer choreografischen Überlegungen ist, ist der Zugang Mrizigas ein anderer: „Ich liebe Musik und ich arbeite mit Musik, aber an einem bestimmten Moment nehme ich sie weg und am Ende habe ich nur noch einen Hauch davon“, erklärt er im genannten Programmtext. Es interessiert ihn zu beobachten, wie De Keersmaeker mit Musik arbeitet und er hört Beyer aufmerksam zu, wie sie Vivaldis Komposition auseinandernimmt. Für ihn ist der Rhythmus wichtiger als die Melodik. „Ich konzentriere mich auf das, was in der Musik verborgen ist. Für mich ist es nicht notwendig, dass das gesamte Musikstück in der Aufführung hörbar ist. Vielleicht muss nichts davon hörbar sein.“ Auch auf diese Weise kann man mit Musik umgehen. Doch wie funktioniert die Arbeit von Choreografin und Choreografen, wenn der Arbeits- und Entstehungsprozess unterschiedlich ist? Das Trio De Keersmaeker, Beyer und Mriziga hat sich vorgenommen, das Werk gemeinsam zu schaffen und alle Aspekte gemeinsam zu entwickeln. Nicht nur die Choreografie und die Musik, auch die Kostüme, das Licht und das Bühnenbild sollten in Zusammenarbeit entstehen und am Ende aus einem Guss sein. Nachdem die Proben im Frühjahr begonnen hatten, wurde schnell klar, dass auch Platz für die eigenen Wege vorhanden sein müsse, außerhalb der Gruppe. Choreografin und Choreograf arbeiteten also parallel und warteten gespannt, ob sich die Wege irgendwann kreuzen würden. In den Gesprächen ging es nicht nur um die Choreografie, die Musik oder die Bühnenausstattung. Auch über die eigene Einstellung zur Natur, zum Leben und zum Kosmos wurde diskutiert. Einig sind sich De Keersmaeker und Mriziga, dass der Tanz auch eine spirituelle Ebene hat – haben muss. In den Passagen ohne Musik wird das besonders deutlich. Das Publikum muss die Gesten nicht deuten, nicht nach den Bildern suchen, die Vivaldi in Musik gesetzt hat, sondern darf sich mit den Tänzern und auch der Natur einig fühlen.
Nach dem lautlosen Eröffnungssolo des Tänzers Boštjan Antončič setzt das überaus dramatische musikalische Theater des Antonio Vivaldi ein, die Vorstellung wird konkret, die vier Tänzer von De Keersmaekers Compagnie Rosas (neben Antončič: Nassim Baddag, Lav Crnčević und José Paulo dos Santos) sind Nymphen, Hirten, Schlittschuhläufer. Sie schwitzen, sie frieren, sie schlafen. Während sich De Keersmaeker und Mriziga überlegen, ob Vivaldi die Natur beschreibt oder selbst ein Teil der Natur ist, während sie über die Zukunft des Erdballs und der Lebewesen darauf nachdenken, beschäftigt sich Amandine Beyer mit dem virtuosen Einsatz der Geige und der Liebe Vivaldis zum Theater und zur Oper.

Im Interview für das Kunstenfestivaldesarts spricht Beyer vom Naturschauspiel, das Vivaldi in Musik gesetzt hat: „Er macht die Natur theatralisch. Er hatte offensichtlich viel Spaß beim Schreiben der ‚Vier Jahreszeiten‘.“ Der ist neben Tiefsinn und Transzendenz auch dem Publikum gestattet.

 

Anne Teresa De Keersmaeker, Radouan Mriziga
Rosas, A7LA5:
„Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione“
15., 17. & 18. Juli, jeweils um 21:00 Uhr, Volkstheater

Österreichische Erstaufführung
ImPulsTanz Festival 2024

 

| FAQ 76 | | Text: Ditta Rudle
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