Außer Atem (À bout de souffle) – so ist der Nouvelle Vague-Klassiker von Jean-Luc Godard aus dem Jahr 1960 betitelt. 50 Jahre später geht die Hetzjagd im realen Leben weiter. Zumindest für jene, die Kunst als Spiegel, als Verstärker mit inhärentem Potential zur kritischen Reflexion der Wirklichkeit sehen. In Wien ist seit dem Frühherbst Mobilisierung angesagt. Heftige Jump Cuts inbegriffen.
Schon während der neu ausgerichteten Kunstmesse VIENNAFAIR eröffnete curated by_vienna 2012. Das bewährte Format, das, von der Kreativagentur departure finanziell unterstützt, in 22 Galerien aus dem Spitzendfeld über die Bühne geht, steht unter dem Motto „kunst oder leben. ästhetik und biopolitik“. Eva Maria Stadler formulierte gemeinsam mit den einzelnen Kuratorinnen und Kuratoren die theoretischen Rahmungen: Zusammenhänge zwischen Arbeit, Ökonomie, Wissen und Politik, wie sie aktuell auf der Ebene der Kunst vorkommen, stehen im Vordergrund. Der Scharnierbegriff dazu entstammt dem Denken des französischen Philosophen Michel Foucault († 1984) und heißt „Biopolitik“. Er umschreibt die verschiedensten Kontrolltechniken im gesellschaftlichen Leben. Nicht aber Machtausübung nach einem traditionellen Verständnis von oben nach unten. Im Zeitalter des flexiblen Menschen handelt es sich vielmehr um Eingriffe in das Leben durch diverse Selbsttechniken. Erinnert das nicht an den eigenen Alltag im Spätkapitalismus? An die Versuche, Buchhalter, unseres eigenen Lebens zu werden, um den Wahnsinn ökonomischer Deregulierung zu überstehen?
Aber keine Sorge: Die Kunst bleibt auch ohne Durcharbeiten von Leselisten interessant. Bei Georg Kargl Fine Arts wirkte der Künstler Thomas Locher als Kurator und zeigt Werke von Yael Bartana (IL) oder Clegg & Guttmann (IE, IL), die sich mit Prozessen der Disziplinierung beschäftigen oder – umgekehrt – wie Peter Fend (US) aus dem Bereich der Kunst heraus mit Landschafts- und Architekturprojekten ökologische und ökonomische Alternativen entwerfen. Direkt, aber auch ironisierend greift Simón Vega (SV) bei Hilger Contemporary das Thema der Observation auf. Mit Installationen in der Art von Überwachungsanlagen aus kaputten alten Kameras verweist Vega zwar auf die Macht des unaufhörlich beobachtenden Auges in öffentlichen Räumen. Zugleich verhalten sich seine Arbeiten gegenüber genormten Kontrollsystemen ziemlich subversiv, weil es sich bloß um Vogelscheuchen ähnliche Attrappen handelt.
Wer vor solchen Eingriffen flieht, bleibt am besten zu Hause. Dennoch: Spuren unentwegter Arbeit entstehen auch da; und sei es nur mit der Maus des Computers. Die beiden rumänischen Kunstschaffenden Anca Benera (RO) & Arnold Estefan (RO) transformieren deren tägliche Wegstrecken auf dem Schreibtisch, welche sie selbst für diverse Jobs zurücklegen müssen, in Zeichnungen; ausgestellt in der Knoll Galerie. Radikalität kann ebenso bedeuten, das Fragile, das Verletztliche, Verwundbare der Menschlichen Existenz zu thematisieren. Deshalb zeigt Kurator Thomas Trummer in der Galerie Martin Janda Arbeiten der 1973 verstorbenen polnischen Künstlerin Alina Szapocznikow.
Wer seinen Radius im urbanen Raum erweitert, dringt schließlich zu einem jüngst fertiggestellten Werk im öffentlichen Raum von Maria Hahnenkamp und Willi Frötscher vor. Subtil unterläuft es alles Regelhafte. Im nach außen geöffneten Hof der Höheren Technischen Lehr- und Versuchsanstalt in der Spengergasse in Wien Margareten, der von der BIG, der Bundesimmobiliengesellschaft generalsaniert und durch Zubau erweitert wurde, realisierte Maria Hahnenkamp in schwarzer Lineatur aus Asphalt in Verbindung mit einer strukturierten Bepflanzung ein Bodenornament. Von den Wänden her kommend rankt dessen Zeichnung auf dem Boden dynamisch in den Raum. Im Gegensatz zur strengen Geometrie des Ortes vermittelt es wegen seiner freien Gestaltung eine Leichtigkeit, die sich über alle vorab berechneten Systeme hinwegzusetzen scheint. Kritische Praxis manifestiert sich in der Differenz zum Funktionalen.
Fortgesetzt werden könnte diese Wanderung an den kühleren Tagen dieses Herbstes sogar in den eigenen vier Wänden. Sagen wir auf einem Kanapee, mit einem Buch in der Hand. Nicht, um in falsche Gemütlichkeit zu versinken, sondern lediglich, um die Form der Auseinandersetzung zu verändern: Dem Wiener Aktionismus als eine der radikalsten und bedeutendsten Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts, die sich aus der drückenden und kulturell reaktionären Atmosphäre im postfaschistischen Nachkriegsösterreich entwickelte, ist jetzt nämlich unter Ägide des mumok und herausgegeben von Hubert Klocker und Eva Badura-Triska die bis dato umfassendste Dokumentation in Buchform gewidmet. Der Materialienband mit zahlreichen Essays und konzentriert gesetzten Bildstrecken enthält zudem mehrere Register und ein ausführliches Personenverzeichnis. Als Manko erscheint, dass der gesellschaftspolitischen Situation in Österreich lediglich ein kurzer, durchaus kompetenter Abriss, aber kein ebenso ausführlicher Aufsatz wie den Themen der Kunst – etwa von Seiten der Zeitgeschichte verfasst – zugedacht wurde. Dennoch ein essentzieller, hervorragend aufbereiteter Beitrag zur Geschichte der Avantgarde.
In die Nähe rücken könnte man den Nonkonformisten Padhi Frieberger, der früh nach 1945 mit Materialassemblagen und Gerümpelskulpturen begann, seine Arbeit aber im Zuge eines anarchischen, gegen jegliche Form des Etablierten gerichteten Lebenskonzepts dem Kunstbetrieb komplett verweigerte. Nach dessen Ausstellung „Padhi Frieberger. Glanz und Elend der Moderne“ im Forum Frohner der Kunsthalle Krems erschien nun die erste monografische Aufarbeitung seines Werks. Sofern sich da ein Bogen zu den selbsterlernten Techniken der Disziplinierung ziehen lässt, dann auf jener Ebene, wo Frieberger all dies bekämpft und als Ankläger gegen die Erstarrung, gegen Meinungstyrannei und Wohlstandsideologie auftritt. Konformität, Sicherheit und Prestige meidet dieser heute extrem zurückgezogen lebende Künstler seit jeher. Sich komplett zu entziehen gelang ihm glücklicherweise nicht. Wie anders wäre diese Rekonstruktion seines einzigartigen Lebens als Gesamtkunstwerk der Verweigerung überhaupt möglich gewesen?