Dass es sich bei Born to be Blue nicht um ein harmloses Feelgood Movie handelt, wird schon in der ersten Szene klar: Der berühmte Trompeter und Sänger Chet Baker (1929-1988), dargestellt von Ethan Hawke, liegt 1960 am harten Boden einer Gefängniszelle, neben ihm kriecht eine riesige Spinne aus dem Schalltrichter seiner Trompete. Es ist eine Momentaufnahme aus dem Entzugsdelirium eines Junkies, der gerade wegen eines Drogenvergehens in Italien einsitzt. Es folgen in schwarz-weiß gehaltene Flashbacks aus seiner erfolgreichsten Zeit, seinem triumphalen Auftritt im New Yorker Jazzclub Birdland. Es ist die Phase, in der Baker als „James Dean des Jazz“ beginnt, Platzhirschen wie Miles Davis und Dizzy Gillespie ernsthaft Konkurrenz zu machen. Entsprechend herablassend äußert sich Davis, der seine Felle davonschwimmen sieht, nach der Show: „Süß wie Candy“, und rät dem Newcomer, wieder „zurück an den Strand zu gehen und noch ein wenig zu leben“, damit seine Musik die nötige Tiefe erreiche. Als weißer „King of the Cool“, der noch dazu berührend zart singt, und dem mit seiner attraktiven Erscheinung die Frauen zu Füßen liegen, repräsentiert Baker in seiner Zerbrechlichkeit ein maskulines Gegenmodell zu der von Schwarzen dominierten, testosterongeschwängerten amerikanischen Jazzszene. Der sensible, poetische Gesang in Stücken wie „My Funny Valentine“ oder „I Fall in Love Too Easily“ bringt zwar die Mädchenherzen zum schmelzen, bei den arrivierten, schwarzen Kollegen erntet Baker dafür auch Spott und Hohn.
Rückblenden und Film im Film
Der kandische Regisseur und Produzent Robert Brudeau, der mit The Deaths of Chet Baker (2009) schon einen Kurzfilm über den Trompeter produzierte, überrascht in Born to be Blue mit einer verschachtelten Komposition. In der anfänglichen Gefängniszene wird Baker von einem Filmproduzenten ausgelöst, der sein Leben verfilmen will. Danach eine Szene mit Baker am Set, wo dieser die Schauspielerin Jane Azuka (Carmen Ejogo) kennen und lieben lernt. Im Film im Film verpasst sich Baker zum ersten mal Heroin, seine damalige Ehefrau ertappt ihn zudem beim Liebessppiel mit dem Groupie, das ihm diesen ersten Schuss gesetzt hat. Der beginnenden Romanze mit Jane folgt eine mittlere Katastrophe im Leben eines Trompeters: Baker gerät in eine Schlägerei mit zwei Männern, bei der seine ohnehin schon angegriffenen Zähne endgültig demoliert werden. Es soll um Schulden bei einem Dealer gegangen sein, biografisch sind die Zusammenhänge bei diesem Zwischenfall allerdings nicht eindeutig belegt; große Teile der Handlung das Films können bestenfalls als semibiografisch bezeichnet werden. Als Folge der Verletzungen lässt sich Baker sämtliche Zähne der oberen Zahnreihe ziehen und beginnt mit einer Prothese wieder spielen zu lernen. Die obere Zahnreihe ist für einen Trompeter (oder auch Flügelhornspieler, zu dem Baker sich wandelt) das wichtigste für den Ansatz am Mundstück, der für den individuellen Ton verantwortlich ist. Der Film liefert dazu seine erschütterndsten Bilder: Bekleidet sitzt der Rekonvaleszente in der Badewanne und spuckt Blut bei qualvollen Versuchen, der Trompete Töne zu entlocken. Am Ende sind Wanne und Chet blutverschmiert …
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Born to be Blue
Biografie, Drama, Musikfilm, GB/Kanada 2015 – Regie Robert Budreau
Drehbuch Robert Budreau Kamera Steve Cosens Schnitt David Freeman
Musik David Braid, Todor Kobakov, Steve London
Production Design Aidan Leroux Kostüm Anne Dixon
Mit Ethan Hawke, Carmen Ejogo, Callum Keith Rennie, Stephen McHattie,
Janet-Laine Green, Kedar Brown, Kevin Hanchard
Verleih Thimfilm, 97 Minuten
Kinostart 9. Juni