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DIE SUCHE NACH DER VERBINDUNG

Susan Meiselas zählt zu den wichtigsten Dokumentarfotografinnen der Welt.  Das Kunst Haus Wien zeigt erstmals Eindrücke aus ihrem 50-jährigen Schaffen. Eine Annäherung an ein Werk, das Erinnerungen schafft, die man nicht erlebt haben muss, um sie zu spüren.

Susan Meiselas, Sandinistas at the walls of the Estelí National Guard headquarters. Nicaragua, 1979 © Susan Meiselas / Magnum Photos

 

„In all meiner Arbeit gehe ich immer eine Bezie-hung ein“, sagt Susan Meiselas. Die US-amerikanische Fotografin, die von 16. September 2021 bis 13. Februar 2022 im Kunst Haus Wien ausstellt, ist in ihrem Leben viele Verbindungen eingegangen. Und hat ebenso viele geschaffen. Meiselas porträtierte Stripperinnen auf Jahrmärkten und Sadomasochisten in Sexclubs. Sie dokumentierte die Revolution in Nicaragua und den Genozid in Kurdistan. Zuletzt begab sie sich in britische Frauenhäuser. Immer mit ihrer Kamera, die es ihr ermöglicht habe, an Orte zu gelangen, die sie sonst nie betreten hätte. Orte, in denen das Verbindende oft fehlte. Aber durch das Abdrücken des Auslösers entstehen konnte.

Dabei hatte die 1948 in Baltimore geborene Meiselas nie den Plan, Fotografin zu werden. Das Fotografieren sei ihr passiert. „Und es wurde für mich das perfekte Medium, um in der Welt zu sein. Und um etwas zu schaffen, das fast mein ganzes Leben lang von Bedeutung war: Beziehungen.“ Es ist dieses Wort, das sie im Gespräch mit Kunst-Haus-Kuratorin Verena Kaspar-Eisert immer wieder wiederholt; das sich durch ihre Karriere als Fotografin zieht wie der Film durch die Spule. Meiselas legt Wert darauf, sich selbst nur als ausführende, niemals als eigentliche Person hinter den Bildern zu betrachten. Sie spricht von einer Verbindung, die sie eingeht, wenn ein Foto entsteht. Eine Verbindung, die keine Einbahnstraße darstellt oder eine Richtung vorgibt. Sondern dem hin- und herschweifenden Blick einen Raum zum Experiment eröffnet.

Susan Meiselas, Pebbles, JoJo and Roe on Baxter Street, Little Italy, New York, 1978 © Susan Meiselas / Magnum Photos

Ihre Fotografien leiten an, nicht nur passiv betrachtet zu werden. Man wird selbst zum tätigen Subjekt. Zu einem Zeitzeugen des Moments, der sich einschreibt in den Blick, den man auf das Foto richtet. Meiselas Bilder – von blauen Flecken auf Oberschenkeln, leeren Räumen, Tänzerinnen auf der Hinterbühne, vermummten Guerilla-Kämpfern im Krieg oder Menschen, die vor Massengräbern knien – legen eine Spur frei, die dem Sehen eine Handlungsmacht zuschreibt, ohne jemals vor Ort gewesen zu sein. Das Sehen verleitet, um anzuleiten. Es schafft neue Erinnerungen. Weil man das Gesehene verinnerlicht, weil man es spürt, verkörpert und wie eine Prothese behandelt, die die eigene Erkenntnis verlängert.

Das Erkennen wird im Betrachten ihrer Fotografien zur Erinnerung von etwas, nach dem man nie gesucht hat – die Falten des Unsichtbaren, die Nischen im Bruch, die Konstruktion im Riss. Meiselas bespielt eine Passion für das, was der Mainstream nicht abdeckt, weil er diese Blickwinkel nicht vorsieht. In den Aufnahmen von Meiselas wirkt Brauchbarkeit deshalb nicht als Kriterium. Wird nicht der Verwertbarkeit unterworfen. Es ist vielmehr das Einlassen in sie und durch sie, die den Menschen und den Orten, den Handlungen und Worten auf ihren Fotografien ihre Wirksamkeit verleihen.

Susan Meiselas, Dee and Lisa on Mott Street. Little Italy, New York City, USA, 1976 © Susan Meiselas / Magnum Photos

Dafür arbeitet Susan Meiselas mit ihren Protagonistinnen und Protagonisten zusammen. Sie wollte sie nie nur repräsentieren. Eher sollten die Abgebildeten die Möglichkeit bekommen, selbst ihre Stimme einzubringen. Die Fotografin kehrt deshalb oft zu den Orten zurück, an denen sie Menschen, die sie traf, fotografierte. Dem „Molotov Man“ – das Foto, mit dem Meiselas weltweite Bekanntheit erlangte – begegnete sie Jahre nach der nicaraguanischen Revolution wieder. Für die Schwarz-Weiß-Serie „Prince Street Girls“ lichtete sie Mädchen über zwei Jahrzehnte ab. Selbst heute leitet sie Workshops mit Kurdinnen in der Diaspora, die jene Fotos ergänzen, die Meiselas während des irakischen Regimes schoss. Und dessen Gespräche – wie in Wien – Teil der Ausstellung werden. Damit ist die Verbindung der Bilder nie unterbrochen. Das Verbindende entwickelt sich weiter. Schließlich verändere sich auch die Stimme derer, die einen bestimmten Moment nicht nur er-, sondern auch überlebt haben. Der Akt des Fotografierens, der Prozess des Verbindens, fasse nur den Moment. Einer, der sich zwar dem Kontext des Betrachtens anpasst, aber sich selbst nicht verändert. Erst durch das Begleiten von Menschen über eine längere Zeit verändere sich auch das Bild, das man von ihnen gemacht hat. Die Ethik ihres eigenen Sehens verwandele sich in eine der Fürsorge, so Meiselas. Es sei ein weiter Weg von einem Foto zurück zum Leben derer, die darauf zu sehen sind – und von dort zurück zum Leben desjenigen, der es gemacht hat. Die Suche nach der Verbindung schreibt sich in den Akt des Abdrucks ein. Meiselas versuche nur zu antworten – und nicht zu viele Fragen zu stellen. Weil das Suchen nach Geschichten und den Menschen, die sich an sie erinnern, nicht aus Fragen ergeben. Sondern aus der Einstellung, die man ihnen entgegenbringt.

Susan Meiselas, Youth practice throwing contact bombs in the forest surrounding Monimbo, Nicaragua, June 1978 © Susan Meiselas / Magnum Photos

Dadurch „fehlt auf einem Bild zwangsläufig etwas“, so die Fotografin. Nur die Aufmerksamkeit ermöglicht das Erkennen über dieses Fehlen hinaus. Meiselas greift nach jenen Dingen, die sich dem Blick der Allgemeinheit entziehen. Sie wird zur Sammlerin der Absenz. Ihre Präsenz allein bedingt deren Existenz. Sie verbindet sich nicht nur im Bild. Sie erschafft das Bild. Die Orte, die Dinge, die Menschen – sie werden real. Ihre Wirklichkeit erschließt sich im Moment, in dem Meiselas den Rahmen findet für das, was ihr unterkommt und was sie vor Augen hat. Erst mit dem gefundenen Rahmen tritt ihre Bedeutung, ihr Bild aus ihnen heraus. Der Rahmen gibt vor, was passiert, wenn wir das Leben anderer betrachten. Nicht das Leiden oder den Schmerz. Sondern das Leben allein. Susan Meiselas wurde nicht zur Fotografin, um zu dokumentieren. Sie wollte verstehen, verbinden. Etwas geben, niemals nehmen. In ihren Bildern riecht man die Straße, auf der die Abgebildeten stehen. Man schmeckt die Umgebung, in der sie sich präsentieren. Weil man mehr sieht, als das Foto zeigt. Weil man eindringt in eine Welt, die man nur zu verstehen weiß, wenn die Aufmerksamkeit das Sehende übersteigt und im Fehlenden zum Erkennen führt.

Der Moment, in dem die Erkenntnis darstellbar wird, sich darstellen lässt und in eine Darstellung überzugehen scheint, ist der Moment, in dem die Darstellung bereits in Erkenntnis übergegangen ist. Erkennen und Darstellen lassen sich nicht trennen, sie bedingen sich, indem sie aufeinander verweisen. Die Fotografien von Meiselas bilden also nie nur etwas ab, sie kristallisieren etwas aus sich heraus. Das Verbindende zwischen Bildern und Ort, zwischen der Beschreibung und ihrer Entstehung ermöglicht es, eine Erinnerung zu konstruieren. Eine, die sich nicht in nostalgischer Verklärung verliert. Sondern Heilung verspricht, weil man nur dem nachtrauern kann, was man sich ins Gedächtnis ruft. Im Falle von Meiselas Verbindungen entwickelt sich das Gedächtnis als Medium für die Erkundung des Vergangenen im Jetzt; ihre Fotografien sind Verbindungsstücke. Vermittlerinnen für unsere eigene Wahrnehmung.

 

Susan Meiselas – Mediations
Bis 13. Februar 2022
Kunst Haus Wien
Untere Weißgerberstraße 13, 1030 Wien

 

| FAQ 62 | | Text: Christoph Benkeser
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