Ohne einen Bezugspunkt gibt es kein Bild: Es entsteht aus dem Zusammentreffen von Motiv, Kamera und Fotograf“, schreibt Caroline Bénichou im Vorwort des Buchs „Mary Ellen Mark“, erschienen bei Thames & Hudson. Ohne einen Bezugspunkt gibt es keine Begegnung. Ohne Begegnung gibt es keine Berührung. Ohne Berührung gibt es kein Drama. Und „jedes Foto enthält ein Drama, das sich allmählich entfaltet“, ist sich Bénichou sicher. Dabei ist in der verpixelten Welt, die wir gerade erleben, der Bezug zur Berührung das, was uns im Grunde am meisten fehlt. In einem unüberschaubaren Bildermeer findet sich schwer ein Ausdruck, der nachhallt. Umso wichtiger ist die Beschäftigung mit Koryphäen wie Mary Ellen Mark, die ihr Handwerk zu ihrer geistigen, wie politischen Bestimmung in der Welt machten. Die Ausstellung „The Lives of Women“ in der Wiener Galerie Westlicht (die bis dato größte Präsentation von Marks Werk in Österreich) wird dieser Aufgabe gerecht und zeigt die US-Amerikanerin als das, was sie vordergründig immer sein wollte: eine Fotografin mit und für die Frauen.
Verständnis für das Andere
Nachdem Mark 1940 in Philadelphia geboren wurde, studierte sie Malerei und Kunstgeschichte, machte später einen Master in Fotojournalismus und reiste nach dem Abschluss erstmal für ein Jahr in die Türkei. 1965 fand sie sich in New York wieder und arbeitete zunächst als freie Dokumentarfotografin. Es war der Zeit geschuldet, dass Mark auf diese Weise plötzlich im Zentrum der Proteste, Paraden und Demonstrationen der Frauenbewegung und des Vietnamkriegs stand. Schnell bemerkte die junge Künstlerin, dass es besonders die Menschen und vor allem die Frauen an den Rändern der Gesellschaft waren, denen sie sich nah fühlte. Dabei verstand sich Mark nie nur als Fotografin, sondern auch als Komplizin und Anwältin ihrer Protagonistinnen und Protagonisten. Kein
Wunder also, dass sie teils noch Jahre später mit ihren Modellen in Kontakt blieb: „Ihr Blick spiegelt den Respekt wider, den sie den Menschen entgegenbrachte, denen sie begegnete“, schreibt Bénichou. Was Marks Kritik am Zeitgeschehen so besonders machte, war ihr Blick hinter das System und die Versprechungen, die dieses aufrechterhält. Wiederholt stellte sie dabei den American Dream infrage und hielt ihrem eigenen Land den Spiegel vor. Während sie nicht direkt die Fehler des amerikanischen Traums untersuche, so Caroline Bénichou, „enthüllen Mary Ellen Marks Fotografien den Betrug dahinter, indem sie uns hinter die Kulissen führen“. Die Bilder wirken auf den ersten Augenblick sanft und nahbar, doch enthüllen ihre Wahrheit erst in der längeren Betrachtung. Plötzlich wirken die Fotografien roh und beklemmend. Doch allmählich fängt man als außenstehende Person an, diesen unberührten Raum zu betreten, ohne sich voyeuristisch zu fühlen.
Von Frau zu Frau
Sei es Mary Ellen Marks ungeschönte Darstellung von Sexarbeiterinnen in Mumbai auf der „Falkan Road“ (1978–1979), Fotografien einer indischen Zirkuskompanie (1989) oder ihre Dokumentation einer psychiatrischen Frauenstation im „Ward 81“ (1976): Es ist allen voran der menschliche Blick in ihrer Arbeit, den Mark zu einer so nahbaren Künstlerin macht. Das Zusammenführen von Hässlichkeit einer Realität mit der Ästhetik ihrer Aufnahme weicht bei Marks zu einem Gefühl des tiefen Verständnisses: „Sie weiß, wie sie Sensibilität nutzen kann, ohne herablassend zu wirken oder in Elend zu schwelgen“, so Caroline Bénichou.
Eine dokumentarische Arbeit, die unter die Haut geht, begleitet Missionarinnen in Kalkutta, welche im Namen der Organisation von Mutter Teresa sterbende und kranke Menschen begleitete. Das Zusammenspiel von Schmerz, Würde und Mitgefühl dieser Lebensrealitäten fließt in den Bildern von 1980 oft nur aus einem Blick der Ordensschwester zusammen. In einem anderen Bild aus der Serie zu „Ward 81“ hält uns der Blick von Laurie aus der Badewanne im Oregon State Hospital gebannt: Zuerst wirkt er vertraut und wird erst je länger man hinsieht zu einer Geschichte, die sich in ihm verbirgt. Dazu Bénichou: „Diese Bilder sprechen von Mangel und Verlust: Verlust von Freiheit, veränderten Geisteszuständen, körperlicher Vernachlässigung und Entfremdung“…
Lesen Sie den vollständigen Artikel in der Printausgabe des FAQ 78
Mary Ellen Mark. The Lives of Women
bis 16. Februar 2025
WestLicht. Schauplatz für Fotografie
www.westlicht.com