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Die Weltnation

Die Diagonale, das Festival des österreichischen Films, zeigt sich 2023 mehr denn je als Bezugspunkt in vielfach staunenswerten Zusammenhängen.

Das Tier im Dschungel © Filmgarten

Was der österreichische Film ist, ist keine ausgemachte Sache, sondern jedes Mal aufs Neue zu klären. Man nehme das Beispiel Patric Chiha, der in diesem Jahr mit Das Tier im Dschungel (La bête dans la jungle) die Diagonale eröffnet. Ein Film in französischer Sprache, auf Grundlage einer Geschichte des Amerikaners Henry James aus dem Jahr 1903. Der Regisseur wurden 1975 in Wien geboren, er hat familiäre Wurzeln in Ungarn und im Libanon. Geld für den Film kam aus Frankreich, aus Österreich und aus Belgien. Ist Österreich also einfach nur mehr ein Teil der Europäischen Union, ein kleines Puzzlestück in einem aufregend komplexen Gesamtbild, in dem künstlerische Talente wie der schwule Weltbürger Chiha sich frei verwirklichen können? In seinem Fall mit einem romantischen Märchen, in dem die Clubkulturen der letzten vierzig Jahre gefeiert werden, während sich zugleich ein melancholischer Schleier darüber legt? Denn in La bête dans la jungle geht es um ein Ereignis, das alles verändert – nur weiß niemand genau, was dieses Ereignis genau sein wird. Und so wird die Verheißung von diesem besonderen Moment des Unbekannten, des Absoluten zu einem Fluch. Und der Film zu einem Versuch über die gefährliche Versuchung, das Leben zu verfehlen, weil man sich immer noch etwas Größeres, Ungewöhnlicheres, Grundstürzenderes erwartet als das, was gerade Gegenwart ist.

Das Tier im Dschungel © Anna Falguères, Filmgarten

Die Diagonale ist das Festival des österreichischen Films. Schon immer war dieser Untertitel eine Herausforderung und auch eine kleine Provokation. Denn der österreichische Film lässt sich eben schwerer denn je auf eine nationale Identität festlegen, jedenfalls auf keine, die den klassischen Klischees der Österreich-Werbung entspricht. Es zählte von Beginn an zur Charakteristik der Diagonale, dass sie kleinteilige Heterogenität an die Stelle von starken Brands setzte. Ein typischer Diagonale-Tag umfasst eine spannende historische Ausgrabung des Filmarchivs Austria im Rechbauer, einen inländischen Mainstream-Film im Annenhof-Multiplex und ein kleinteiliges Experimentalprogramm im kleinen Saal des Schubert-Kinos. Das Österreichische wird dabei in Form und Inhalt, und auch in zeitlicher Erstreckung, gedehnt, denn es zählt zu den Vorzügen der Diagonale, dass historische Forschung im Lauf der Jahre zunehmend größer geschrieben wurde. Das wirkt sich an vielen Stellen aus. In diesem Jahr ist zum Beispiel die Reihe „Zur Person“ dem Regisseur und Schauspieler Goran Rebić gewidmet. Ein Österreicher aus der Vojvodina, ein Gastarbeiterkind, dessen Karriere mit einer Reflexion über seine verschiedenen Heimaten begann: Gekommen bin ich der Arbeit wegen hieß 1987 sein erster Film, er erzählte von seinem Vater. Rebić fand aber auch in dem kleinen Georgien, einem der Nachfolgestaaten der Sowjetunion, Themen und Identifikationsmöglichkeiten. Und er durfte sich für die Diagonale 2023 einen Referenzfilm aussuchen. Er wählte Tee im Harem des Archimedes von Mehdi Charef, einen Film, der in Frankreich eine ähnliche Brückenfunktion zwischen dem Maghreb und Europa einnimmt wie das Werk von Rebić für Österreich und den Balkan. Gespannt darf man auch auf das Werkstattgespräch sein, in dem es nicht zuletzt um Projekte gehen wird, die nicht realisiert werden konnten – Rebić konnte keineswegs immer so ungebrochen arbeiten, wie man es sich für ihn erhofft hätte.

Goran Rebić, During the Many Years © sixpackfilm

In Referenz, also: in Bezügen stehend, in Zusammenhängen – das ist bei der Diagonale schon seit Längerem eine wichtige Rubrik, und zugleich ein Programmprinzip für das Festival. Als bloße Leistungsschau für die Branche, als Verkaufs-Show für die Förderlandschaft, zu der man internationale Gäste in die im März oft schon herrlich frühlingshafte Murmetropole Graz einlädt, war das Festival nie gedacht. Es hat im Lauf der Jahre sogar zunehmend stärker den Charakter eines Labors bekommen, auch einer Party, das Publikum steigt darauf ein, die Inhalte werden aber nicht flach gehalten.

Diabolik (I/F 1968) © Filmarchiv Austria

Populär waren die Filme mit Marisa Mell sicher einmal, die in einem der „In Referenz“-Programme laufen – im Graz Museum gibt es dazu die Ausstellung „Magic Marisa“ zu sehen. Die 1992 jung verstorbene Schauspielerin, die für eine Weile Ansätze zu einer Weltkarriere hatte, war gebürtige Grazerin, sie steht für eine Epoche des kommerziellen Kinos in Europa, an die heute eher die Streamer anschließen als die nationalen Filmkulturen. Und so wird es spannend, sie in Das Nachtlokal zum Silbermond (1959) in einer frühen Rolle zu sehen. Wolfgang Glück, der später mit 38 – Auch das war Wien einen Schlüsselfilm der österreichischen Vergangenheitsbewältigung drehte, und mit Der Schüler Gerber ein nationales Grundlagendokument von Friedrich Torberg verfilmte, zeigte sich in den Anfängen seiner Arbeit noch als Teil einer Filmindustrie, die mit schlüpfrigen Themen (Mädchenhandel) nach Wegen zwischen Schund und Gesellschaftsanalyse suchte. Mell wird bei der Diagonale auch noch mit Rollen für Mario Bava oder Franz Antel vorgestellt, eine Bandbreite, die ebenfalls erkennen lässt, wie postnational das Kino vor fünfzig Jahren auch schon einmal war.

Moos auf den Steinen (A 1968) © Filmarchiv Austria

Sterne unter der Stadt (2023)

Individuelle Biografien kann man dabei oft wie Skizzen zu einer Erweiterung der Begriffe von Österreich nehmen. Einer der spannendsten Punkte der diesjährigen Diagonale dürfte dabei das Spezialprogramm zu Bernhard Frankfurter werden. Der Begründer des Carl-Mayer-Drehbuchpreises und vielfach engagierte Filmemacher und Publizist starb 1999 im Alter von 53 Jahren an einer Lungenentzündung während einer Grippewelle.Er war auch gebürtiger Grazer, mit seinen vielen Interessen, Engagements und Aktivitäten war er über zwei Jahrzehnte ein wichtiger, wenn auch manchmal unterschätzter Teil der Szene des österreichichen Films. Nun erfährt er eine Würdigung in einem der historischen Specials.
Das zweite dieser diesjährigen Specials ist eine Zusammenarbeit der großen Institutionen (Filmarchiv Austria, Österreichisches Filmmuseum, ORF Archiv) und versammelt unter dem lockeren Titel FINALE verschiedene Arbeiten, in denen es um Abschließendes, Endzeitliches und Entscheidendes geht – zum Beispiel Rammbock, ein kleiner Zombiefilm, mit dem die inzwischen große Laufbahn von Marvin Kren begann. Unter das Stichwort Finale wird aber auch Georg Lhotskys Moos auf den Steinen (1968) gestellt, nach einer klassischen Lesart der erste „neue“ österreichische Film nach dem kommerziellen Nachkriegskino, ein nicht zuletzt ästhetisch ehrgeiziges Werk, bei dem man jede Gelegenheit nützen sollte, es in einem Kino zu sehen.
Wenn die Diagonale schließlich Preise vergibt, sind das auch immer Referenz-Aussagen. Einer der Preise steht schon zu Beginn fest: Margarethe Tiesel, bekannt unter anderem aus Filmen von Ulrich Seidl, wird mit dem Großen Diagonale-Schauspielpreis ausgezeichnet. Im Festivalprogramm ist sie mit Sterne unter der Stadt von Chris Raiber zu sehen, einem Spielfilm in der Rubrik Jahresrückblick. Tiesel spielt eine Großmutter, der ein Zehnjähriger schwört, er würde sich nie wieder verlieben. Was das mit der Wiener U-Bahn zu tun hat? Das möchte man gern wissen. Und schon ist man wieder mitten in Österreich.

 

Diagonale – Festival des österreichischen Films
21. bis 26. März 2023, Graz
www.diagonale.at

 

 

| FAQ 69 | | Text: Bert Rebhandl
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