Was ist Misogynie? Die simple Antwort, es handle sich um Hass auf Frauen, ist zwar naheliegend. Aber sie greift meist zu kurz. Sie klingt nämlich so, als würde es sich bloß um individuelle, pathologische Aussetzer handeln. Um die Verachtung einzelner Männer und nicht um strukturelle Probleme. Die australische Philosophin Kate Manne brachte mit ihrem bahnbrechenden Buch „Down Girl. Die Logik der Misogynie“ (2019 auf Deutsch erschienen) Licht in die komplexen Zusammenhänge. Sie versteht Misogynie als wirkungsvolles politisches Instrument der Kontrolle von Frauen in einer Männerwelt. „Schlechte“ Frauen greifen die männliche Vorherrschaft an, sie verweigern es, Männern Anerkennung und Fürsorge zukommen zu lassen. Deshalb werden sie herabgewürdigt und zum Schweigen gebracht. „Gute“ Frauen hingegen stützen das patriarchale System, nehmen sich zurück, um ihren männlichen Kollegen oder Partnern den Vortritt zu lassen.
Spricht man von Misogynie, geht es also auch immer darum, welche Rollen Frauen in der Gesellschaft zugedacht werden. Sie werden bestraft, wenn sie ihre „natürliche“ Position der Unterordnung aufgeben und Forderungen stellen. Sie werden Opfer von Femiziden, wenn sie Männer verlassen. Sie werden im Job gemobbt, wenn sie in der Hierarchie nach oben kommen wollen und die Kompetenzen ihrer männlichen Chefs anzweifeln. Die wichtige Frage, wie Kunst mit Misogynie und tradierten toxischen Rollenmustern umgehen kann, lässt unterschiedliche Antworten zu. Auf der Bühne ist vieles möglich, was im echten Leben gefährlich ist. Deshalb können Utopien aufgezeigt und Selbstermächtigung real durchgespielt werden, was durchaus befreiend sein kann. Im Theater kann man aber auch Dinge reenacten, um alltägliche Gewalt gegen Frauen sichtbar und erfahrbar zu machen. Gewalt, die sonst abstrakt bleibt und gerne verdrängt wird.
Wie also kann man über Femizide erzählen? Über Vergewaltigung? Eine der radikalsten und spannendsten Produktionen der heurigen Wiener Festwochen kommt aus Brasilien. Die Performancekünstlerin Carolina Bianchi berichtet in ihrem Stück „Die Braut und Goodnight Cinderella“ von einer wahren Geschichte: Giuseppina Pasqualino di Marineo, die sich als Künstlerin Pippa Bacca nennt, brach 2008 zu einer Reise auf, um ein Zeichen für den Weltfrieden zu setzen. In weißem Brautkleid war sie per Anhalter unterwegs. In der Türkei wurde sie von einem Lastwagenfahrer vergewaltigt und ermordet. Während Bianchi dies auf der Bühne erzählt, zerstößt sie eine Schlaftablette mit dem Mörser und mixt sie in einen Drink. In ihrer Heimat Brasilien heißen diese K.O.-Tabletten „Gute Nacht, Aschenputtel“. Sie werden nicht nur dort Frauen in Clubs in ihre Getränke gegeben, um sie zu vergewaltigen. Auch Bianchi schläft ein – ihr Körper ist hilflos allem ausgeliefert, was auf der Bühne passiert.
„Bei Gewalt, die in Bewusstlosigkeit geschieht, hat man keinen Zugriff auf die Erinnerung an das Ereignis. Es gibt nur vage Spuren. Wie kann man also davon erzählen? Das ist für mich vielleicht die zentralste Frage dieser Trilogie, deren erster Teil ‚Cinderella‘ ist“, sagt Bianchi im Gespräch mit FAQ.
Ihr sei wichtig gewesen, eine gewisse Verletzlichkeit zu provozieren, um in eine „Erfahrung über die Grenzen einer Erzählung“ einzutauchen. „Das ist eine Art Verlust für die Zuschauerinnen und Zuschauer und natürlich auch für mich selbst, weil ich in gewisser Weise mein eigenes Stück verliere, diese einzigartige Erfahrung des Theaters jeden Abend.“ Ihre radikale Performance macht ein grundlegendes Problem greifbar, das viele Frauen betrifft, die traumatisierende Erfahrungen gemacht haben: Diese lassen sich vor Gericht nicht logisch erzählen, eben, weil die eigenen Erinnerungen fragmentiert sind.
Ihre Performance „Die Braut und Goodnight Cinderella“ ist Teil eins der geplanten „Cadela Força“-Trilogie. Im nächsten Kapitel wird die Täterseite beleuchtet werden. Dass Theater die Welt verändern kann, daran glaubt Bianchi aber nicht. „Diese Gewalt ist zutiefst strukturell und es wäre sehr unfair, dem Theater die Aufgabe zu übertragen, sie zu beenden. In dieser Hinsicht bin ich ziemlich pessimistisch“, sagt sie: „Ich denke, die Welt ist schrecklich. Und ich werde immer wieder von den Schatten angezogen. Aber diese Allianz zwischen Dunkelheit und Ekstase, die das Theater hervorbringt, diese Art und Weise, in der Kollektivität stattfinden kann, ist für mich eine Art zu leben und mich mit der Welt zu verbinden.“ …
Lesen Sie den vollständigen Artikel in der Printausgabe des FAQ 75
Wiener Festwochen
17. Mai bis 23. Juni 2024
www.festwochen.at