Werfen wir zuerst einen Blick auf das Graz Mitte der Achtziger. Eine verstaubte Stadt, der im „Steirischen Herbst“ immerhin eine Jahreszeit lang der Mief ausgetrieben wurde. Der Jazz auf der Musikuniversität erlebt seine erste Hochblüte. Gastprofessoren wie Mark Murphy, Art Farmer, Harry Pepl oder Sheila Jordan machten die Studenten glücklich und der Kulturverein Gamsbart organisierte Konzerte ganzjährig in einem Studentenheim, das als „Mürzl“ bekannt war. Für diese Konzerte gestaltete der große Grafiker Herms Fritz die Plakate, die ihrem Chronisten immer besonders ins Auge stachen. Eines Tages lief er an einem wunderbaren Fritz-Plakat vorbei, das ein Konzert von Chet Baker ankündigte (mit dem Gitarristen Philipe Catherine und dem Bassisten Jean Louis Rasinfosse). Das Konzert wurde beinahe ohne Vorkenntnisse besucht und der junge Musikfan erlebte, was ein großer Künstler mit seiner Trompete und seiner Stimme trotz desaströsen körperlichen Zustands noch leisten kann: Mit wenigen Tönen die Vielspieler aus dem Gedächtnis zu löschen und Wahrheiten, ob hart, ob zärtlich, ob liebevoll oder tödlich ans Tageslicht zu bringen. Wenige Jahre später war Chet Baker tot, aber diese 80 oder 90 Minuten waren eine Lehre, die ich nie vergessen werde.
Chet 1954 © Bobby Willoughby
Spulen wir noch einmal ein gutes Vierteljahrhundert zurück. Mitte der Fünfziger des letzten Jahrhunderts war Chet Baker eine der größten Stars des Jazz, Kritiker bejubelten seine Platten, vor allem seine Aufnahmen mit dem Tenorsaxophonisten Gerry Mulligan und das Publikum strömte in seine Konzerte. Dazu kam natürlich seine unbestrittene Schönheit, die ihn auch für eine Filmkarriere prädistiniert hätte und der Nimbus der lässigen Leichtigkeit, ja der Unbesiegbarkeit des Genies brachte ihn auf die Covers der Musikzeitschriften.
Ende der Fünfziger nahm er in einem Zeitraum von einem Jahr vier Alben für das Label Riverside auf. Hinter den Kulissen war bereits klar, dass das Image des strahlenden Genies nicht mehr lange zu halten war, denn seine zunehmende Heroinabhängigkeit forderte ihren Tribut. Er war noch keine 30, als er diese Alben aufnahm. Das erste, „Chet Baker Sings: It Could Happen to You“, stellte ihn als Sänger vor und es war wohl das nachhaltigste seiner Karriere, denn auch in seinen späten Jahren griff er bei Konzerten immer wieder auf Standards wie „The More I See You“ zurück. Wer einmal seine Stimme hörte, konnte sie nie mehr vergessen, sie war androgyn, leidenschaftlich, verzweifelt, direkt, aber doch immer rätselhaft und dieses Album mit seinen acht Songs ließ in für den Rest seines Lebens nicht mehr los. Wie viele war Chet Baker von Miles Davis, und da vor allem von „Birth of the Cool“, beeindruckt. Auf „Chet Baker in New York“ ist er mit Bassist Paul Chambers und Drummer Philly Joe Jones, zwei Veteranen aus der Band von Davis, zu hören. Zeugen berichteten, dass seine körperliche Verfassung miserabel war, doch die Musiker rund um ihn spornten ihn an und auf den veröffentlichten Aufnahmen ist von Einschränkungen aber auch gar nichts zu merken; vor allem der Blues „Hotel 49“ gilt noch immer als Klassiker. „Chet“ wird direkt danach aufgenommen und zeigt ihn im Zusammenspiel mit dem Pianisten Bill Evans, der wenig später mit Miles Davis „Kind of Blue“ aufnehmen wird. Bakers Vibrato symbolisiert schon fast die Traurigkeit schlechthin und sein Ton vollendet die Symbiose mit dem Piano von Evans und den anderen Bläsern. Baker ist hier trotz widriger Vorzeichen auf einem der Höhepunkte seiner künstlerischen Karriere. „Plays The Best of Lerner & Loewe“ wurde nach dem Absitzen einer Gefängnisstrafe auf Rikers Island fertiggestellt und hat durchaus seine Höhepunkte. Es ist als Abschluss der ersten Karriere zu sehen, denn es folgten weitere Strafen, ein Abstieg und 1966 ein Überfall, der in dazu zwang, mit neuen Zähnen sein Spiel zurückzuerobern und langsam seine zweite Karriere vor allem in Europa wieder aufzubauen.
Diese vier wegweisenden Alben in der Karriere von Chet Baker sind jetzt mit einer fünften Platte, die Alternate Takes und Outtakes dieser Sessions enthält, als LP-Box erschienen, die neben technischen Dingen wie dem neuen Mastering von den Originalbändern oder den Linernotes des immer verlässlichen Jazz-Historikers Doug Ramsey vor allem eines erlaubt: Eine Zeitreise ins Herz eines musikalischen Genies.
Chet Baker: Chet (5 LP Box)
Craft Recordings / Universal