Welch Schauspiel auf der Spielfläche der Gestirne! Selbst die Abgebrühten Festivalgäste draußen auf dem Gelände der Zeche Zollverein konnten kaum verbergen, wie berührt sie waren. Gewöhnlich geht im Frühherbst über der Stadt Essen in Nordrhein-Westfalen nämlich der so bezeichnete „Erntemond“ auf. Aber diesmal wurde der über der Ruhmetropole beinahe schon voll erstrahlende Himmelskörper von einem zweiten, künstlichen Mond flankiert. Ein Open Air Ereignis der Sonderklasse. Und eine Weltpremiere. Das koreanisch britische Künstlerduo Kimchi and Chips, bestehend aus Mimi Son und Elliot Woods, brachte ihre eben erst entwickelte immaterielle Außeninstallation „Another Moon“ in der Sphäre des Ungreifbaren zum Erstrahlen.
Der artifizielle Mond ist nun Teil des Medienkunstfestivals NEW NOW. Seine Konzeption gilt als technische Höchstleistung. Sechs Jahre Forschung investierten die Künstler. 40 Laserprojektionen müssen aufeinander abgestimmt werden. Natürlich ging es zum Auftakt von NEW NOW nicht bloß um das Event. Die Botschaft der Installation ist von symbolischer Tragweite.
Ökobewusste Elektronik Kunst
Auch in der enormen Daten- und somit auch Energie verbrauchenden Medienkunst sind nämlich Öko-Bewusstsein und Sorge um unseren Planeten angekommen. Deshalb generiert die Installation „Another Moon“ ihren elektrischen Treibstoff aus Sonnenlicht. Mit ihrer visuellen Verdopplung des Erdtrabanten möchten Kimchi and Chips etablierte Wahrnehmungsmuster destabilisieren. Irritation soll aufmerksam machen, um den destruktiven Umgang mit unserer Welt zu bremsen. „Another Moon“ ist zugleich ein Apell für einen energiebewussten Zugang zu unseren digitalen Potenzialen.
Noch dazu liegt der Spielort des NEW NOW Medienfestivals in einem Epizentrum der Ausbeutung der Natur. Über ein Jahrhundert war das Ruhrgebiet das Areal eines der größten Steinkohlebergwerke. 1986 stillgelegt und nun UNESCO Welterbe manifestiert sich die Zeche Zollverein als Superzeichen, das für den notwendigen Wandel des Energiehaushalts auf dem Planeten steht. Als visueller Marker steht das berühmte Doppelbock Fördergerüst wie eine Ikone für die stillgelegte Bergwerksanlage. Es wurde zum Wahrzeichen für die Industrie in Essen wie der Dom in Köln oder der Uhrenturm in Graz.
Ähnlichkeiten mit der der Stahlstadt Linz
Die Transformation in eine Kulturlandschaft mit jetzt neu hinzu gefügtem Hot Spot für Digitale Künste, das erinnert an die ehemalige Stahlstadt Linz. Hier, in Oberösterreichs Landeshauptstadt fungierte die ars electronica ab 1979 als Motor für die Neupositionierung als Medienstandort. Der „ars“ folgten später das Lentos Museum und andere Kulturbauten. Auch positionierten sich beide Städte, Linz 2009 und Essen 2010, als Europäische Kulturhauptstadt. Solche Vergleiche allerdings zerbröseln, sobald man sich vor Augen führt, dass Essen als Teil des Ruhrgebiets doppelt so viele Einwohner hat wie Linz. Umgekehrt erfolgte die Umwandlung der Stadt Linz in eine Elektronik- und Digital City unter der Ägide des damaligen Intendanten des ORF Landesstudios. Sie war von Anfang an Teil eines Medienverbundes.
Währenddessen ging es in Essen um den komplexen Prozess der Stilllegung und die Transformation in einen Kulturpark und Erinnerungspfad zur Geschichte der Industrie- und Arbeitswelt. Dafür wurden heroische Leitfiguren der Architektur wie Norman Foster oder Rem Kohlhaas herangezogen. Die bewaldete Industriebache ist nun Ausflugsgebiet und Kulturstandort. Ein Quartier der Folkwang Kunstuniversität wurde dort errichtet und einige leerstehende Hallen von der Ruhrtriennale bespielt.
Logisch also, mit einem Medienkunstfestival einen neuen Akzent hinzuzufügen. Die Bunker ähnliche Architektur der ehemaligen Mischanlage der Kokerei scheint ideal für Großbildprojektionen und skulpturale Medieninstallationen. Von außen wirkt das Gebäude wie ein Getreidespeicher. Anstieg auf die einzelnen Ebenen über ein System aus Eisentreppen. Bergwerk oder stillgelegte Fabrik. Das sind die ersten Assoziationen. Endzeit Existentialismus. Wer hier aber den Sound der Einstürzenden Neubauten, jenen von Godflesh oder gar SPK aus dem inneren Walkman erdröhnen hört, blieb vor einigen Jahrzehnten stecken.
Matthew Herbert in Kollaboration mit dem Essener Projekt „Stone Techno“
In der Immersive Sound Night zur Eröffnung verwoben feine Ambient-Klangwellen die einzelnen Werke und Ausstellungssituationen; ausgerichtet in Kooperation mit dem MUTEK Festival für elektronische Musik, Montréal. Etwa arbeitete der britische Komponist und Künstler Matthew Herbert in Kollaboration mit dem Essener Projekt „Stone Techno“ mit gesammelten Klängen und Geräuschen der Gesteine und Kohleflöze der Zeche Zollverein.
Dem Publikum erschloss sich ein Blade Runner Szenario des 21. Jahrhunderts. Bloß hier funktionierte die Technik. Das postapokalyptisch Dystopische wurde zwar vermittelt. Die Grenze zum Abgrund der Überhitzung ist aber noch nicht ganz überschritten. So könnte man den eher neutral und dann doch ernüchternd klingenden Festival-Titel nach all den Diskursen über das Ende Utopien interpretieren.
Spannend wie das drohende Verzischen der Erde im Strudel der Überhitzung künstlerische Arbeiten verändern kann. Der in Brüssel lebende Joannie Lemercier, der lange mit abstrakten Lichtarbeiten spezielle Wahrnehmungssituationen herstellte, bringt hier ein Doku-Video im Cinema-Scope Format. Sein Werk „Climate Action“ unterstützt die Proteste gegen den Braunkohle Abbau in Hambach. Er kollaboriert mit der Gruppe Extinction Rebellion und investiert sein kreatives Potential zur Generierung weithin sichtbarer Lichtzeichen und vor allem zur Schaffung von Öffentlichkeit im Kunstraum in den Aktivismus gegen die klimatische Überhitzung.
Ebenso ergreifend und doch komplett anders: Die Einladung des britischen Medienkunstkollektivs „Marshmallow Laser Feast“, per Datenhelm eine Reise in das Innere von Mammutbäumen zu unternehmen; immerhin die größten und am längsten lebenden Organismen. Die 3D Arbeit „Treehugger“ führt die Dimension solch gewaltiger Naturerscheinungen aus dem Inneren heraus vor Augen.
Faszinierend der explorative Zugang von Studio Above&Below. Manche ihrer Medienkunstwerke sehen aus wie aus einem Low Tech Science-Fiction Film. Anfangs vom Designhandwerk inspiriert experimentieren sie jetzt mit komplexer Software um neue Möglichkeiten zwischen dem Digitalen und realen Raumsituatioonen zu erkunden: „Wir glauben an das Entstehen eines neuen Terrains zwischen unserer physischen und digitalen Umwelt“.
NEW NOW hebt ab in die nächste Runde
Solche Produktionsprozesse können sich dem Publikum natürlich nur ansatzweise erschließen. Auch das Residency Programm des Festivals sichtbar zu machen ist schwierig, weil vieles hinter dem Vorhang passiert. Doch zu den Intentionen des Festivals gehört es, jeweils Produktionsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Deshalb war der Take Off bereits Monate vor der Eröffnung mit der Gruppe Kimchi and Chips angesetzt. NEW NOW hebt ab als Diskurs- und Produktionsplattform: „Denn die Digitalen Künste eint heute ein Vorhaben: die Grenzen des Möglichen zu verschieben.“ erklärt Kuratorin Jasmin Grimm. „Das UNESCO-Welterbe Zollverein ist für diese Auseinandersetzung prädestiniert. Die ehemals größte Steinkohlezeche der Welt zeigt, wie wir unser Erbe – auch das Erbe der Kohle – in einen Auftrag umdeuten können.“
Ein fast pathetisch wirkender Anspruch, wenn man sich die Dimensionen der ehemaligen Zech vor Augen führt. Doch liegt alles in weiter Ferne? Bleibt NEW NOW unerreichbar für all jene die nicht anreisen können? Nein! Denn der Künstler Christian Mio Loclair hat mit seinem Werk „ZECHE“ eine digitale, per Computerbildschirm einfach zu erreichende Parallelwelt konzipiert. Wer auch immer möchte, kann das virtuelle Gelände der Zeche Zollverein per Avatar erkunden und in der digitalen Landschaft selbstverständlich Kunstinterventionen entdecken.
Ausstellung – 03.10.21, 12:00 – 20:00 Uhr
Virtuelle Plattform „ZECHE“ – 03.10.21, täglich 24 Stunden geöffnet
Adresse: UNESCO-Welterbe Zollverein
Mischanlage, D- 45141 Essen