Rache und Lust
Ein Schwarzbild, das den Blick wie eine Augenbinde verdeckt, setzt einen dem erregten Stöhnen einer Frau aus, ohne sich für dessen Ursprung in Lust oder Schmerz zu interessieren. Vorhang auf: Ein kaputtes Service und ein im Sonneneinfall blutendes Gesicht wird distanziert und schnurrend von einer teilnahmslosen Katze beobachtet. In den Trümmern stimmt Paul Verhoevens neuer Film Elle Michèles Rachefeldzug gegen ihren Vergewaltiger an. Aber zuerst werden die Scherben sorgfältig aufgehoben und entsorgt.
Mit elektrisierendem Fatalismus verkörpert Isabelle Huppert Michèle, die skrupellose und berechnende Chefin einer Pariser Videospielfirma, die mit aggressiver Lust ihrem Angreifer nachstellt, der es nicht lassen kann, persönliche Duftnoten in ihrem Haus zu hinterlassen. Das Katz-und-Maus-Spiel verschließt sich dem Publikum lange, macht es sich unterwürfig. Die Intransparenz ihrer Motive und Begierden zwingt zur ständigen Analyse von Michèles Handeln und wird zum integralen Bestandteil des ungehörigen Spaßes, den der Film bereitet.
Verhoeven und Drehbuchautor David Birke hinterlassen kleine Spuren, die einem das Gefühl geben, Michèles Handlungen deuten zu können; dass die giftigen Attacken gegen ihre Mitarbeiter und die neue Freundin ihres Ex-Mannes womöglich Versuche sind, eine persönlich-sexuelle Souveränität zurückzugewinnen, die ihr durch die Vergewaltigung genommen wurde. Aber langsam dämmert einem, dass konstant falsche Fährte gelegt werden, und die eigenen moralischen Parameter nicht mehr dabei helfen können, zwischen Unsicherheit und Sadomasochismus zu unterscheiden. Die gezeigte Realität fordert die Selbstverständlichkeit der eigenen heraus. Der Zuschauer als Beobachter hat die Deutungshoheit verloren, da der Film herkömmliche Vergleichsstrukturen produktiv-zynisch zerschlägt. Durch den ständigen Entzug schafft es Verhoeven, die Geschichte über Rache und Lust jenseits der Moral zu erzählen. Aus der Intransparenz des Filmes und dem eigenen Drang, den Film psychologisch zu analysieren und zu antizipieren, entspinnt sich eine Dynamik, die die undurchdringbare Liaison aus subjektiven Erwartungen, Vorbehalten und Erfahrungen auffädelt. Was einmal konsistent erschien, liegt nach dem Film in Scherben. Elle ist jedoch kein rein analytischer Film, sondern ein Genrespiel, das virtuos zwischen Rachethriller, bürgerlicher Komödie und Familiendrama tänzelt und in seiner dialektischen Charakterstudie wahnwitzige Höhen erreicht. Diese Ambivalenz offenbart sich als Konstante und wütet wie ein Orkan, der einen rast- und atemlos zurücklässt. Elle macht aus unerfülltem Voyeurismus eine verstörend-witzige Tour de Force, die Paul Verhoeven mit einer an Dreistigkeit kaum zu überbietenden Leidenschaft auf die Leinwand bringt. Vorgeführt zu werden hat selten so viel Lust beschert.
ELLE
Thriller, Belgien/Deutschland/Frankreich 2016
Regie: Paul Verhoeven
Mit: Isabelle Huppert, Laurent Lafitte, Anne Consigny
Verleih: Filmladen
Filmstart: 24. Februar 2017