Irgendwann wird es Studien darüber geben, welche Auswirkungen die Absage aller Sommerfestivals rund um die Welt auf die Entwicklung der Jugendlichen zwischen 15 und 17 hatte. Momentan kann man nur mutmaßen und sich freuen, dass die Festivalsaison Schwung aufgenommen hat und auch das Frequency 2022 von 18. bis 20. August am gewohnten Ort in St. Pölten stattfinden wird. Als Bonus für die wirklich Konditionsstarken wird auch noch ein Aufwärmtag am 17. August angeboten.
Heranwachsende können endlich wieder ihre virtuelle Blase verlassen und lernen, wie man eine Zelt aufbaut, warmes Bier in der Traisen kühlt und ganz ohne Navigation seinen Schlafsack findet – und dabei hoffentlich keine anderen Behausungen zerstört. Dazu gehört auch, dass man nach dem Festival seinen Müll ordentlich entsorgt und all die neu angeschafften oder ehrlich ausgeborgten Gerätschaften wieder mitnimmt, um sie nächstes Jahr wiederzuverwenden. Die Geschichten der Festivalerlebnisse werden in die Chronik der handelnden Personen eingehen und immer wieder erzählt werden. Zumindest so lange, bis die eigenen Kinder die magischen Worte „Papa, Mama, ich will heuer aufs Frequency“ ausgesprochen werden.
Viele notwendige Eigenschaften, die das Überleben auf Festivals sichern, konnten zwei Jahrgänge also nicht erwerben, und somit ist es höchste Zeit für ein Training mit alten und neuen Freunden im geschützten Dschungel von St. Pölten. Noch dazu wo es heuer einen bemerkenswerten Zufall gibt: Mit Bilderbuch und Young Hurn traten zwei Headliner bei der heurigen Eröffnung der Wiener Festwochen auf und brachten den altehrwürdigen Rathausplatz zum Toben. Eine unglaubliche Anzahl an Smartphones wurde Yung Hurn entgegengereckt, die meist von jungen weiblichen Händen gehalten wurden und die Entzückung, die dabei zu beobachten war, war dem Rathausplatz mit seiner Geschichte der 1.-Mai-Aufmärsche sicher fremd, wird aber 20. August sicher in einem noch höheren Maß ausbrechen. Gleichzeitig ist diese Tatsache wohl mehr als ein Indiz dafür, dass das, was sich als klassische Kultur versteht, in Auflösung begriffen ist und sich die Tempel der Hochkultur für immer mehr Veranstaltungen öffnen müssen, die einem breiten Kulturbegriff unterliegen.
Bilderbuch schreiben im Jahr 2022 absolut Geschichte, denn die von ihnen lange ausgearbeitete Show ist seit ihrer Premiere in der Hamburger Elbphilharmonie eine neue Messlatte für jede Band, die ins Erwachsenenfach wechselt und dort für sehr, sehr lange Zeit eine große und dominierende Rolle einnehmen will. Ein paar Anleihen bei David Bowie
zu nehmen schadet nie und ihre Version von universalem Indie-rock für alle Generationen mit klar erkennbarer ureigener Lässigkeit wird sich nicht nur auszahlen, sondern auch zum Maßstab werden. Diese Show, die so weltumarmend wie hocheffizient wird, wird der Abschluss der Tour sein und auch deswegen zu einem besonderen Ereignis.
Eine der wirklichen Phänomene auf den Bühnen des deutschsprachigen Raums sind definitiv AnnenMayKantereit, die sich ohne jeden Kompromiss mit sich nie anbiedernden Songs in die Herzen Hunderttausender gesungen haben. Die drei Kölner Schulfreunde haben sich nie verbogen und auch nie in die Trickkiste des Stadionrocks gegriffen. Trotzdem sind sie auf den größten Bühnen gelandet. Mit „12“ haben sie 2020 ein Album produziert, dass die Gefühle des ersten Lockdowns bündelte und inzwischen zu einem Meilenstein der Innenschau geworden ist. Sie werden am 19. August sicher vor einer imposanten Kulisse den Abend beschließen und für einen Höhepunkt sorgen.
Was gibt es sonst noch? Der ausgewanderte Botschafter von Rudolfsheim-Fünfhaus, Raf Camora, wird als Headliner schon am Donnerstag eines der eher raren Gastspiele auf österreichischen Boden geben. Gespannt darf man auch auf den Auftritt des vom Rapper zum Indierocker gewandelten Ferdinand fka Left Boy sein, dessen Beziehung zum Publikum doch schon einige Krisen erlebt hat. Sonst darf man sich auf die immer verlässlichen Von Wegen Lisbeth oder Vini Vici freuen und natürlich auf jede Menge mehr.