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Eyes Wide Open

Text: Bert Rebhandl | Fotos: Museum of the City of New York

Der amerikanische Boxer Walter Cartier beendete seine Karriere im Jahr 1957 mit 46 Siegen, 13 unentschiedenen Kämpfen und zwei Niederlagen. Er gewann nie einen Titel, und würde heute vermutlich allenfalls ein Nachleben in den Statistiken seines Metiers führen, wäre er nicht bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in New York auf einen jungen Mann getroffen, der zu einem der größten Filmemacher der Geschichte wurde: Stanley Kubrick, wie Cartier auch in der Bronx geboren, machte damals als Fotograf erstmals auf sich aufmerksam. Zu Beginn des Jahres 1949 erschien in der Zeitschrift „Look“ eine Reportage mit dem Titel Prizefighter, in der Cartier die Hauptrolle spielte.

Der Weg von der Fotostrecke zum ersten Film war dann nicht besonders weit und dauerte nur zwei Jahre. In dem 16 Minuten langen Day of the Fight stand neuerlich Walter

Cartier im Mittelpunkt, und Kubrick gelang es, die fotografische Stilistik, die er sich in den paar Jahren auf den Straßen, in den Künstlergarderoben, auf den Dächern der Stadt angeeignet hatte, mit den ästhetischen Vorstellungen der schwarzen Serie und den Reportageidealen der hohen Zeit des Magazinjournalismus zu verbinden.

In der Ausstellung „Eyes Wide Open. Kubrick als Fotograf“ im Bank Austria Kunstforum lässt sich diese Periode der Entwicklung zum Filmkünstler nun ziemlich gut nachvollziehen. Sie zählt zu den vielen Projekten, mit denen die Verwalter des Nachlasses von Kubrick seit längerer Zeit intensive (und kommerziell sehr erfolgreiche) Quellenkunde betreiben. Material ist in Massen vorhanden bei einem Mann, der immer auch als Archivar gearbeitet hat, und der selbst in allen seinen großen Arbeiten auf intensives Studium aller erreichbaren Quellen gesetzt hat.

Im Vergleich zu den großen späteren Projekten wie dem (nie realisierten) Napoleon-Film, in denen Kubrick sein Faible für historische Rekonstruktion ausagieren wollte, sehen wir in den frühen Fotografien einen ungeheuer zeitgenössischen Beobachter, dessen Blick tatsächlich von der Neugierde intensiv „geöffneter“ Augen geprägt war, wie es der Titel suggeriert. Der Entdeckungsdrang, mit dem Kubrick noch als Schüler in die Stadt aufbrach, um daraus in Schwarzweiß-Bildern bedeutsame (was nicht dasselbe ist wie bedeutende) Momente für die fotografische Ewigkeit zu retten, wurde schon in dem ersten Bild deutlich, dass er an die Zeitschrift „Look“ verkaufen konnte: Ein Zeitungskiosk, an dem der Verkäufer deutlich erkennen lässt, dass die Schlagzeilen über den Tod von Präsident Roosevelt ihn nicht kalt lassen. Es war das Jahr 1945, Kubrick war noch keine 17 Jahre alt. Er hatte sich einen Nebenjob verschafft, der ihm bald wichtiger war als die Schule. Und er widmete sich der Sache mit der ihm eigenen Gründlichkeit. Kubrick ging es nicht nur um den Moment der Aufnahme, er wurde auch zu einem Experten der Dunkelkammer, die Entwicklung war ihm gleichermaßen wichtig.

Es waren die Jahre in New York, deren visuelle Überlieferung durch die Fotografien von Weegee geprägt wurde. 1945 erschien dessen Band „Naked City“, er zeigte eine Stadt, die in den immer neu gezogenen Umrisslinien von „crime scenes“ eine markante Signatur gewann. Der Blick von Stanley Kubrick, der Weegee bewunderte, ist im Vergleich romantischer, auch erotisierter – und zugleich sieht man, dass hier schon über das Pressebild hinausgedacht wird, wenn auch noch unausdrücklich. Kubrick fotografiert am Set einer Krimiserie namens Paddy Wagon. Er hebt einen Revolver ikonisch heraus, isoliert ihn von den Drehbuchklischees, von denen er in den Folgen der Serie umgeben wird, richtet die Waffe direkt auf den (architektonischen) Widerstand der Stadt.

Die Bilder von einem Shoe Shine Boy in einer anderen Serie sind nur zum Teil klassische Sozialreportage. Kubrick zeigt die Orte, an denen der junge Schuhputzer sich aufstellt, um Kunden zu finden; er zeigt eine Ökonomie am Straßenrand, er zeigt auch die Pose, die dem jungen Mann die Würde ausgestellter Coolness gab. Doch er zeigt den Schuhputzer (eine Figur, die in den Nachkriegsgesellschaften die ersten Modernisierungsverlierer vertrat, denken wir an den italienischen Neorealismus) auch auf einem Dach, umschwirrt von Tauben, die aussehen, als wären sie aus Mickeys hochfliegenden Träumen gekommen.

In einer ähnlichen Situation trifft Kubrick die Schauspielerin Betsy von Fürstenberg an, auch ihr widmet er eine Reportage. Ein sehr bekanntes Bild zeigt sie beim Lesen eines Drehbuchs auf einem Fensterbrett, die Stadt liegt offen im Bilderhintergrund. Von der Stimmung her entspricht dieses Bild einigen vergleichbaren anderen, in denen er die junge Dame auf einer Schaukel, in den Ästen eines Baumes oder einfach mit Freundinnen auf einem Stück Mauerwerk im Garten eines offensichtlich noblen Anwesens zeigt. In allen Fällen betont Kubrick ein Element des Ephemeren, des Schwebenden, des Himmelsstürmerischen, und plötzlich ergeben die Fotografien eine Verbindung, die über die Klassen hinweg die Ambition erkennen lässt, die in Amerika nach dem gewonnenen Weltkrieg die Gesellschaft bestimmte. Arm oder reich, anonym oder aristokratisch, Betsy oder    Mickey, Schauspielerin oder Schuhputzer, sie alle ließen ihre Träume steigen wie Drachen oder Tauben.

In einer Fotoserie über das Showgirl Rosemary Williams, ebenfalls für „Look“ im Jahr 1949 produziert, überwiegt hingegen das gegenteilige Motiv, das die Film Noirs dieser Jahre prägte: Alltäglichkeit, die in dunkle Imagination umschlägt. Das bekannteste Bild aus dieser Serie ist sicher das, in dem Kubrick auch selbst zu sehen ist, in der Garderobe hinter Williams stehend, beide im Spiegel. Das Begehren, das der junge Fotograf verspürt haben mag, ist durch den Apparat, mehr noch aber durch die Tatsache gebrochen, dass beide nicht einander, sondern jeweils sich selbst ansehen. Der ins Bild ragende nackte Oberarm von Rosemary Williams ist das erotische Signal einer Unmittelbarkeit, gegen die Kubrick sich durch Komposition absicherte. Doch das stärkste Bild mit dem Showgirl sieht aus, als wäre es bereits direkt aus einem Film entnommen: eine nächtliche Szene an einer Straße, das Auto hat offensichtlich eine Panne, ein Mann macht sich am Hinterrad zu schaffen, und Rosemary Williams steht im grellen Licht einer Straßenlaterne und zieht sich die Lippen nach.

Nicht nur an dieser Stelle zeigen die Fotografien von Kubrick, die ja immer als Strecken und damit latent als Erzählungen konzipiert waren, einen Hang ins Fiktionale. Und so lag im Grunde nahe, was bald auch eintrat: Die dokumentarische Arbeit verwandelte sich in fimisches Erzählen. Aus Prizefighter wurde Day of the Fight, aus Day of the Fight wurde Killer’s Kiss, die Geschichte eines Boxers und einer Taxitänzerin. Die Geschichte von Rocky Graziano, den Kubrick 1947 auch porträtiert hatte, wurde 1956 unter dem Titel Somebody Up There Likes Me von Robert Wise verfilmt. Bis heute ist das einer der essenziellen Boxerfilme, in dem die Ästhetik von Kubricks früher Fotoreportage noch deutlich nachwirkt. Er selbst war zu diesem Zeitpunkt schon im Begriff, mit dem Kriegsfilm Paths of Glory seinen nächsten Schritt zu tun. Mit seinen Filmen verhalf Kubrick dem Kino zu einer Vision. Aber auch er begann mit einem Look.

 

Eyes Wide Open. Stanley Kubrick als Fotograf

08. Mai bis 13. Juli 2014

Bank Austria Kunstforum

Freyung 8, 1010 Wien

Die Ausstellung ist eine Kooperation des Bank Austria Kunstforum Wien mit dem Museum of the City of New York und Gamm Giunti, Florenz.

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