Wenn es um Neuerscheinungen geht, kommt man an Taylor Swifts „The Tortured Poets Department“ einfach nicht vorbei. Wenn man sich für die Anthology-Ausgabe entscheidet, hat man 31 Songs oder mehr als zwei Stunden Zeit, sich in die Welt von Taylor Swift einzuklinken. Zum Vergleich: Die ersten vier Alben der Beatles haben ungefähr dieselbe Spieldauer. Man erfährt viel über vergangene Affären (oder war es doch Liebe?) und dagegen ist auch nichts zu sagen, aber Swift hat nicht den Mut, sich auch selbst in Frage zu stellen. Das ist wirklich schade, denn in der Menge der Songs sind absolute Perlen wie „So Long, London“ versteckt, der als Song abseits des Privatlebens nicht nur blendend funktioniert, sondern auch zeigt, welche Höhenflüge hier möglich sind. Vielleicht ist die pure Üppigkeit damit zu begründen, dass Swift den Fans einfach ein breites Angebot macht, aus dem dann die eigenen Playlists gespeist werden können. Als Unternehmerin im Streamingzeitalter macht dieser Schritt in Sinn von Buffet statt Menü durchaus Sinn, denn die ersten Streamingrekorde wurden bereits gebrochen.
„Ten Thousand Apologies“ ist eine der besten Bandautobiografien, die jemals veröffentlicht wurden und kann mit den Erinnerungen von Lemmy Kilmister locker mithalten. Der Frontmann von Fat White Family, Lias Saoudi, veröffentlichte das Buch 2022 und beschrieb den jugendlichen Wahnsinn, die verpassten Gelegenheiten, die absolute Unfähigkeit und Blödheit einer Band, die auf der Bühne immer in Gefahr schwebte, jede Grenze zu überschreiten. Nach vier Jahren Pause erscheint nun mit „Forgiveness Is Ours“ ihr viertes Album, das erstens durch musikalische Vielfalt besticht und über dem die Schlagzeile „Einsicht“ stehen könnte. Einsicht in die Tatsache, dass sich nichts zum Besseren wenden wird – weder den eigenen Körper noch die Weltlage betreffend. Simple Gitarrenpopsongs waren noch nie die Sache der Fat White Family, im Kern geht es der Band immer um Katharsis und Wege, die möglichst noch niemand beschritten hat. Da kommt dann mit „Today You Become Man“ ein Song über die Zwangsbeschneidung von Buben ohne Narkose daher, oder die Erkenntnis „Polygamy Is Only for the Chief“. Eine der letzten widerständigen, sperrigen, aber nie langweiligen Bands setzt ihren Weg konsequent fort.
Das kann man auch von Beth Gibbons behaupten. Ihr Solowerk nach dem Ende von Portishead ist schmal, ihre Konzerte sind rar und wertvoll. Im letzten Jahrzehnt schenkte sie der Welt ihre einmalige Interpretation von Pendereckis 3. Symphonie. Nun erscheint tatsächlich „Lives Outgrown“, eine Reise der Endfünfzigerin durch ihre jüngere Vergangenheit, die durch Abschiede, Krisen und die Findung einer neuen Lebensrolle geprägt war. Es ist eine emotionale Fahrt durch die Lebensmitte, auf die uns Gibbons mit ihrer Stimme und den sorgsam instrumentierten Songs mitnimmt. Am Ende steht nicht die Erlösung, aber das Gefühl, einen Ort gefunden zu haben und nicht nur vom Schicksal herumgebeutelt zu werden. Gibbons geht es nicht um Bekenntnisse, dazu ist sie viel zu privat, es geht um Gefühlszustände, die schon jeden betroffen haben oder noch betreffen werden. Diese beschreiben die Songs in einer Härte, die Respekt verlangt. Der sanfte Schlusssong „Whispering Love“ gibt Hoffnung, dass auch Seelen genesen und Krisen neue Perspektiven schaffen können.
Diese suchte und fand John Cale schon immer, ob als Mann, dessen Sound Velvet Underground zu den Legenden machte, die sie immer noch sind, oder als ewig Suchender, dessen Wege und Songs nie vorhersehbar waren. Nach der Welttournee im letzten Jahr erscheint nun im Juni „POPtical Illusion“ und er tut der Welt wieder nicht den Gefallen des reifen akustischen Abschiedswerkes. Im Gegensatz zum Vorgänger „Mercy“ versteckt Cale seine markante Stimme aber nicht im Mix und agiert fast im Alleingang mit seinen Keyboards verwandten Gerätschaften, wird so beinahe, wie in der Ballade „I’m Angry“, nahbar. Und auch wenn man es dem früheren Wüterich Cale kaum zutraut, so zwinkert hier zwischendurch doch in homöopathischen Dosen eine gut versteckte Altersmilde durch, die dem Interpreten von „Halleluja“ in Shrek dann doch zu Gesicht steht.
„Ghost Ranch“ ist das neue Album von Son of the Velvet Rat, und es ist eine Art Ankunft. Die Teilzeitamerikaner Georg und Heike Altziebler schreiben hier dank der Herkunft vom alten Kontinent, der eigenen Poesie und ihrer Beobachtungsgabe die amerikanischsten Songs der Gegenwart. Die Arrangements wurden wieder reduziert, und jeder Ton macht Sinn, dazu kommt eine Erzählökonomie, die ihresgleichen sucht – etwa im Song „Rosary“, in dem ein Kind erzählt, wie es an seinem Geburtstag mit seinem Vater zum Schießstand fährt und von der Mutter einen Rosenkranz bekommen wird – und die nur meisterlich genannt werden kann. Dazu passt auch, dass Gitarrist Marc Ribot ein paar Gitarrenspuren beisteuert, die ein edles Album noch wertvoller machen.
Nach der erfolgreichen Kino-Wiederaufführung des legendären Konzertfilms Stop Making Sense ist das Interesse an den Talking Heads merklich gestiegen. Ein Aspekt des kollektiven Erinnerns an die Band von Tina Weymouth, David Byrne, Jerry Harrison und Chris Frantz ist auch „Everyone’s Getting Involved – A Tribute To Talking Heads’ Stop Making Sense“, ein Album, für das Kollegen und Nachgeborene sich zwar strikt an die Setlist von „Stop Making Sense“ hielten, aber ihre eigenen Versionen der Songs einspielten. Miley Cirus griff natürlich gleich bei „Psycho Killer“ zu und verwandelt den ersten Hit der Talking Heads zu einem unvorhersehbaren Discoknaller, der die Pet Shop Boys jubilieren ließe. The National machen das, was sie am besten können, nämlich jeden Song, wie hier „Heaven“, in ihren sorgfältigen, durchdacht ruhigen und immer vorhersehbaren Sound einzugemeinden. Auch auf Lorde ist Verlass: Sie darf sich „Take Me to the River“ widmen, drängt sich nicht in den Vordergrund, lässt aber den Kern des Songs mit aller Energie scheinen – und zeigt so, dass wahre Interpretationskunst nicht laut sein muss. Auch die übrigen Mitwirkenden wie Kevin Abstract, Paramore oder die Linda Lindas lassen spüren, dass sie voller Liebe und Respekt am Werk sind.