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FAQ – MUSIC #65

Vogel, flieg die Kurve — Wet Leg, Kurt Vile, Die Aeronauten, Kae Tempest, Matteo Haitzmann, Johannes Winkler

Kae Tempest © Wolfgang Tillmans

Die Isle of Wight steht vor allem wegen des schon lange stattfindenden Festivals im Sommer auf Landkarte der Populärkultur. Einst traten dort Bob Dylan oder Leonard Cohen auf, heuer sind es unter anderem Madness, Muse und Kasabian. Wet Leg haben nun das Zeug, das Branding der Insel vor der englischen Südküste zu ändern und zwar in kürzester Zeit. Rhian Teasdale und Hester Chambers schafften im letzten Jahr mit „Chaise Longue“ einen Hit, der herausstach. Die Basslinie aus der Werkzeugkiste der Pixies wurde mit einer Ode auf das Herumlungern und Biertrinken verknüpft, und so war es kein Wunder, dass sie gleich in allen Fernsehshows auftauchten. Mit dem effektiv betitelten Debütalbum „Wet Leg“ setzen sie konsequent ihren Weg der Würdigung der Faulheit fort – und das mit allen Mitteln des Gitarrenpop, die Bands wie Transvision Vamp oder L7 einst vorgezeigt haben. Eine lockere Songperle jagt die andere. Auch weil sie definitiv keine Angst vor der Vergangenheit und Stilmitteln der Neunziger haben, schaffen sie es, Songs zu schreiben, die die Gegenwart notwendig braucht: ohne Tiefgang, aber mit jeder Menge Spaß am Leben.

Wet Leg „Wet Leg“ (Domino)

Den hatte Kurt Vile zwischenzeitlich verloren, als er es sich zum Vorwurf machte, einen Song seines absoluten Helden John Prine, der kurz davor gestorben war, live im Fern-sehen hingemetzelt zu haben. Aber der frühere Gitarrist von War On Drugs erfing sich wieder und geht seinen Weg als klassischer Singer-Songwriter auf „(watch my moves)“ weiter. Der Wunsch war es, eine epische Platte zu machen, wobei er dabei eher die Breite und Themenvielfalt der Songs meint, und den Fehler vermeidet diese mit breiten Arrangements zu überfrachten. Gezielt eingeladene Gäste wie James Stewart vom Sun Ra Arkestra oder Drummerin Sarah Jones (Hot Chip, Harry Styles) stellen sich in den Dienst der Songs, die von Vile aber doch manchmal zu sehr in die Länge gezogen werden. Ein Song wie „Jesus On A Wire“ hätte alles, was ein ruhiger, reflektiver und provokanter Song braucht, nur wäre die Komprimierung ein Dienst am Lied und am Hörer gewesen. Beim nächsten Album sollte sich Kurt Vile vielleicht doch wieder einem Produzenten seiner Wahl anvertrauen, der Leerläufe erkennt und sie dort lässt wo sie hingehören: im Mistkübel des Studios.

Kurt Vile „watch my moves“ (Verve)

Zu lang waren die Songs der Aeronauten nie, dafür immer witzig, spöttisch und voller Lebensfreude, Humor und Philosophie. Mit dem Tod von Sänger und Songschreiber Oliver Maurmann im Jahr 2020 ist die Band nun Geschichte, aber „Hits! Vol.1“ versammelt den ersten Teil der besten Songs dieser Band. Nach den 24 Liedern bleiben nur zwei Fragen offen: Warum zum Teufel hatte diese grandiose Band nie einen wirklichen Hit? Und warum spielten die Aeronauten ihre atemberaubenden Shows immer nur für die, die ohnehin schon bekehrt waren? Diese Werkschau schöpft aus zehn Alben und einer Maxisingle und ehrt eine Band in all ihrer Glorie, die immer nur Popmusik machen wollte. Und das mit Herz, Hirn und dem Mut zu absoluten Hymnen wie „Junge Herzen gehen frei“. Dass weitere, leider verborgen gebliebene Hits wie „Komidunz“ es gar nicht auf den ersten Teil geschafft haben, lässt die Vorfreude auf den zweiten Teil der Rückschau auf diese famose Band fast ins Unendliche steigen.

Die Aeronauten „Hits! Vol.1“ (Tapete Records)

Kae Tempest hat das „t“ aus ihren Vornamen entfernt und kehrt nach dem Erfolg ihres Stückes „Paradise“ am National Theatre in London mit ihrem vierten Album „The Line Is A Curve“ zur Musik zurück. Die Vielbegabte hat mit der Zeit Vertrauen in ihre überragenden Fähigkeiten als Sprachkünstlerin gefasst und lässt ihre Texte, die immer auch als Sprachkunstwerke funktionieren, im Einklang mit den von Dan Carey produzierten Beats fließen, dass es eine Freude ist. Egal, ob man jetzt das Pickerl „Spoken Word“ oder „HipHop“ verwenden will: Kae Tempest schafft es die Gefühlslagen der Gegenwart abzubilden und daraus große Kunst zu machen.

Kae Tempest „The Line Is A Curve“ (Universal)

Diesen Anspruch wird auch Matteo Haitzmann nicht abstreiten. Der Geiger, Komponist und Performer aus Salzburg ist Teil des Jazzkollektivs Little Rosies Kindergarten, des Improvisationsquartetts Squa Mata und der Volksmusikerneuerer Alma. Als unermüdlich Schöpfender war es nur eine Frage der Zeit, bis er neben seinen Kompositionen im Bereich der E-Musik sein erstes Solowerk vorlegt. Auf „Those We Lost“ hat er sich ein hartes Thema vorgenommen. Inspiriert von Gideon Mendels Fotoband „The Ward“ reflektiert er die Überlebensstrategien der LGBT-Bewegung am Höhepunkt der AIDS-Krise in den Achtzigern und Neunzigern. Er arbeitet mit Originaltönen aus der Zeit, eigenen Songs und vielfältigsten Sounds und erarbeitet so ein Wechselband zwischen Hoffnung, Verzweiflung, Liebe, Abschied und Widerständigkeit. Zusammen ergeben diese Songs eine Ode an Individualität, Toleranz und die vielen Arten der menschlichen Existenz.

Matteo Haitzmann „Those We Lost“ (Listen Closely)

Bleiben wir bei einem Künstler, der sich auf die Visitenkarte mit Recht „Komponist“ drucken darf. Johannes Winkler ist Spezialist für Soundtracks und tanzt damit im globalen Filmgeschäft auf vielen Hochzeiten. Eines seiner Hobbys ist das Paragleiten und da hatte er die Idee, für die Landschaften, die überflog, und die er spürte, Stimmungen und Töne zu finden. Umgesetzt wurde das Vorhaben, das den Namen „Vogelperspektive“ trägt, vor allem mit analogen Synthesizern. Die Stücke haben klingende Titel wie „Bergtau“, „Inversion“ oder „Breitengrad“ und das Ergebnis ist ein seltenes Hörerlebnis des Schwebens, der nahenden Gefahr, aber auch durchaus der Andacht vor der Schöpfung, denn in der Luft sind bekanntlich die täglichen Beschwernisse Schall und Rauch. Es ist vorstellbar, dass auch eine Legende der elektronischen Musik wie Hans Joachim Roedelius hier in Jubel ausbricht.

Johannes Winkler „Vogelperspektive“ (Vogel Records)

 

| | Text: Günther Bus Schweiger
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