Alles begann mit einem Buch. Lucy Dacus und Julien Baker, Singer-Songwriterinnen aus der Indie-Ecke, hatten einen gemeinsamen Auftritt und Backstage las Dacus „Portrait of a Lady“ von Henry James. Sie kamen ins Gespräch und am Ende des Abends war ein E-Mail-Buchclub mit zwei Teilnehmerinnen geboren. So blieben sie im regelmäßigen Austausch. Als sie dann noch die Kollegin Phoebe Bridges bei einem Auftritt kennen und schätzen lernten, hatte der Buchklub ein Mitglied mehr. 2018 nahmen die Freundinnen schon eine EP als Boygenius auf, die aber nur kurz wahrgenommen wurde. Dann kam die Pandemie und aus dem Buchclub wurde ein Trio, das Songideen austauschte und die Lieder am Ende auch gemeinsam in einem Zimmer abrundete. Jetzt ist „The Record“ erschienen und das Wort Supergroup feiert plötzlich eine Wiederauferstehung. Was sofort auffällt, ist, dass vor allem die sofort wiedererkennbare tiefe Charakterstimme von Dacus mit Autotune angeglichen wurde – und so vielleicht radiotaugliche Songs entstehen, aber ein einzigartiges Plus der Band verschenkt wird. Die schnellen Songs erinnern an die ruhigen Momente der Breeders und die Balladen sind allerbestes Songwritinghandwerk; allein der Funke will, vielleicht auch wegen des fehlenden Muts zur Melodie, nicht überspringen.
Dafür überrascht Ben Harper auf ganzer Linie. Auf „Wide Open Light“ verzichtet der Mann, der seinen Gitarren wirklich jeden Bluesstil begeisternd entlocken kann, auf seine Band, die Innocent Criminals, und stellt sich dem Songwriting. Abwechslungen und Genrewechsel beleben jede Karriere – das belegte Harper schon mit seinen unzähligen Kollaborationen. Wer hat schon mit Willie Nelson, Harry Styles und Bluesharmonikalegende Charlie Musselwhite zusammengearbeitet? Auf „Wide Open Light“ ist er der klassische Singer-Songwriter und zeigt umwerfend, dass er auch hier zuhause ist. Jeder Song hier ist ein Beweis, aber „Yard Sale“, den er mit Jack Johnson singt, ist eine so grandiose wie stoische Geschichte des gerade verlassenen Liebhabers, der seine Exfreundin beim Wegfahren und Kofferpacken beobachtet. Große Geschichten in wenigen Worten mit einer Melodie zum Niederknien. Ben Harper zeigt uns, was Songs leisten können.
Element of Crime bleiben bei ihrem Rhythmus, alle vier bis fünf Jahre neue Songs zu veröffentlichen. Dazwischen liegen Touren, ein Buch von Sven Regener, das die Geschichte von Hr. Lehmann fortschreibt und vielleicht noch ein Soundtrack für einen Film von Leander Haußmann. 2023 war es wieder Zeit und fast pünktlich tauchte auf den Veröffentlichungslisten „Morgens um Vier“ auf. Natürlich gibt es bei Element of Crime keine Revolutionen, und sie haben auch nicht vor, ihren Sound zu ändern, aber bei den Romantikexperten jenseits der 60 haben sich im Hintergrund einige Dinge geändert. Der langjährige Produzent und Bassist David Young starb 2022 und die Trauer, der auch ein ausführlicher und hörenswerter Podcast gewidmet wurde, durchzieht die Stimmung der Songs wie ein unsichtbarer Schatten. Übrig bleiben die Liebe und die Gedanken, die sich Regener in der Dämmerstunde am Schnittpunkt zwischen Tag und Nacht darüber macht. Auch wenn der Mond nie voll ist, ist er sich bei aller Müdigkeit sicher, dass ohne Liebe und Sehnsucht alles umsonst ist. Auch „Morgens um Vier“ wird, wie alle Platten von Element of Crime, mit der Zeit noch weiterwachsen und die Songs werden Teil des Lebens.
Bleiben wir in Berlin: Tristan Brusch könnte mit seinen 34 der Sohn von Sven Regener sein. Neben der Sprache eint sie noch ein weiteres Faktum: Beide schaffen es, das Wort „Baggersee“ in ihren Songs zu verwenden und bei Brusch ist „Baggersee“ auf seinem Album „Am Wahn“ gleich einer der Songs, der heraussticht, denn welches Lied erzählt schon voller Inbrunst die Geschichte eines krebskranken Liebenden, der vom Tod im See träumt und dann noch zum Mitsingen einlädt? Tristan Brusch schafft es, für jeden Song einen Anzug zu finden, der nicht nur passt, sondern die Texte noch größer macht. Da wären die Rumpelbeatanleihe bei Tom Waits in „Oh Lord“ oder die Anklänge an ein Frühsiebziger-Arrangement von Reinhard Mey in dem wunderbaren „Seifenblasen platzen nie“. Einmal im Jahr erscheint ein Album, das die Grenzen des Songwritings in Deutsch in neue Sphären hebt. Für dieses Jahr ist die Suche abgeschlossen, denn an „Am Wahn“ wird niemand vorbeikommen.
Detroit war die langjährige Heimat von Joe Casey, dem Sänger von Protomartyr, die am 2. Juni ihr sechstes Album „Formal Growth in the Desert“ vorlegen. Lange arbeitete sich Casey am sozialen Abstieg seines Viertels ab, bis er schließlich nach dem Tod seiner Mutter doch seine Sachen packte. Das Etikett „Post-Punk“ wird Protomartyr gerne verpasst, aber die breiten und lauten Riffs, der Tempowechsel, die ruhigen Passagen sind mehr ein ständiges Aufbegehren gegen alle Arten von Abstieg, Tod, Dunkelheit und Angst. Auch wenn das Album auf der Sonic Ranch in Tornillo, Texas aufgenommen wurde, ist die Wüste bei Protomartyr ein Sinnbild für das verwildernde Detroit und definitiv nicht das Symbol für Weite und Freiheit. Zwischen all den mächtigen Gitarrensounds schaffen sie es dann sogar mit „3800 Tigers“ einen Song aufzunehmen, der einen ahnen lässt, wie The Clash im Jahr 2023 klingen könnten. Eine Band, die es sich noch nie leicht gemacht hat, bleibt schnurgerade auf dem Weg, den sie ohne Alternative zu gehen hat.
Ebenfalls schon bei ihrem sechsten Album angekommen ist Feist. Die Kanadierin schleppt stets ihren wunderbaren, aber für sie vollkommen untypischen Hit „1234“ im Rucksack mit sich herum, der auch auf ihrem neuen Longplayer „Multitudes“ definitiv keinen Nachfolger finden wird. Die begnadete Performerin, die einige der hier versammelten Songs schon auf der Europatour 2021 vorgestellt hat, arbeitete wieder mit ihrem oftmaligen musikalischen Partner Chilly Gonzalez zusammen. Wenn der improvisierte Touch der Songs beabsichtigt war, dann ist die Übung gelungen, aber die Wiedererkennbarkeit der Lieder hat definitiv darunter gelitten. Es gibt Stellen, da sehnt man sich bei dieser immer hochsympathischen Künstlerin nach etwas weniger Bekenntnis und mehr Struktur in den Liedern, die ein wenig schemenhaft vorbeihuschen und nur in Bruchstücken überzeugen können.