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Federico Fellini

Text: Jörg Becker | Fotos: Studiocanal
Roma, 1972

Im Vorspann ziehen fünf junge Männer untergehakt und lauthals singend durch die leeren nächtlichen Straßen eines mittelalterlichen Städtchens. In der Romagna nannte man sie „Vitelloni“ (die großen Kälber), die bei ihren Eltern, Müttern oder Tanten leben, in einem Schwebezustand zwischen sorgloser Jugend und verantwortungsvollem Erwachsensein, weder Beruf noch Ausbildung nachgehen und die Zeit etwa in Lokalen, beim Billard oder auf den Straßen verbringen. Fellini war mit seinem Film I vitelloni (Die Müßiggänger, 1953) nach Rimini, in die eigene Heimatstadt zurückgekehrt, obwohl er dort nicht einen Filmmeter gedreht hat. Eigentlich wollte er nach dem Flop von Lo sceicco bianco (Der weiße Scheich) auf den Filmfestspielen in Venedig 1952 sein Projekt La strada entwickeln, das dramatische Märchen vom fahrenden Zirkusvolk, doch der Produzent war skeptisch und schlug ihm eine Komödie vor.

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I vitelloni, 1953

Aufbruch und Abschied

Fellini erprobte hier ein rhapsodisches Erzählen, indem er eine präzise Milieuschilderung in Episodenkapitel einteilt, die über ein Jahr hinweg, vom Ende des Sommers bis zum Beginn des folgenden, spielen. Erzählinstanz ist die Off-Stimme eines unsichtbar bleibenden sechsten Vitellone, doch ahmt der Synchronsprecher den Tonfall Fellinis nach. Der Dezente und Ernsthafteste der „Müßiggänger“, Moraldo, ist der einzige, der sich von seiner Jugend und seiner Heimatstadt verabschiedet und mit dem Zug in die große Stadt aufbricht. Von der Ankunft dort wird Fellini erst zwanzig Jahre später in Roma (1971) erzählen, das Projekt einer Fortsetzung von Moraldos Geschichte, „Moraldo in città“ dagegen sollte nie fertig gestellt werden. Nur einmal, mit Amarcord (1973) kehrte Fellini, für die Zeit des Dreißiger-Jahre-Mussolini-Faschismus, nach Rimini zurück. Alle Aufbrüche bei Fellini, beginnend mit I vitelloni, sind zugleich Abschiede und bei aller Erwartung des Neuen voller Rührung und Wehmut, Truffauts „Kleinen Toden“ gleich, unwiederbringliche Verluste von Menschen und Welten. Und so durchfährt die Kamera, entsprechend Moraldos Blick aus dem Zug, der den Ort verlässt, gleichsam die Schlafzimmer aller Freunde, die noch in ihren Betten liegen, ahnungslos, dass einer aus ihrem Kreis sich schließlich aufgemacht hat, woandershin.

„Ich möchte alle Gesichter dieses Planeten

 sehen …Mit der egoistischen Verliebtheit des

Marionettenspielers in seine Marionetten“

Ein Panoptikum aus Exemplaren des Menschen, ein Universum aus Physiognomien des Individuellen eher denn aus Soziotypen, eine Ansammlung von Bizarrerien des Einzelnen sind die Filme Fellinis, des unentwegten Zeichners, das Foto-archiv des Regisseurs bezeugt es. Fellini hat für sein Werk viele Statisten gebraucht; indem er sie zeichnete, sah er seinen Filmen ein erstes Mal ins Gesicht, auf der Suche nach Gesichtern, Körpern und Gesten begann der Film für ihn zu leben, bereits in Bruchstücken zu existieren, für deren Möglichkeitsform der Regisseur, der über einen besonderen physiognomischen Blick verfügte, stets verführbar geblieben ist: „Sie sind mein freiwillig gewähltes menschliches Material, sozusagen. Fügsam und bescheiden, von einer wunderbaren Bereitschaft zu den ausgefallensten Variationen, einmal Farbe, einmal Silhouette, einmal Prinz, einmal Lump, einmal Minister, einmal Bettler.“ „Fellini’s Faces“: 418 Beispiele aus dem Universum seiner Darsteller, ein Katalog seiner gesammelten Gesichter, essenzieller Fellini. „Mit Schminke und Kostümen versuche ich, all das hervorzuheben, was die psychologische Eigenart des Typus ausmacht“, so Fellini 1981. Ob ich jemanden nehme oder nicht, hängt vom Gesicht ab, das ich vor mir habe (…). Das Ergebnis ist immer positiv. Jeder hat das Gesicht, das zu ihm paßt, er kann gar kein anderes haben. Die Gesichter stimmen immer, das Leben irrt sich nicht. (…) Und noch etwas: Wenn ich die Gesichter unter den Statisten aussuche, stoße ich manchmal ganz zufällig auf die Hauptfigur für meinen Film.“

LaStrada_3.pngLa strada, 1954

Man erinnert sich an das Publikum der Parodien des Variétés vor der Kinovorführung, die Statisten in Fellinis Roma, an anderer Stelle auch an die prächtigen Kardinalsgewänder auf der klerikalen Modenschau, man hätte meinen können, der Papst höchstselbst befände sich auf dem Laufsteg. Zu Anfang zeigt Fellini Momente, in denen sich die Welt dem Bild entdeckt – und als Bild entzieht: „Bei der Ausschachtung einer neuen U-Bahn sind die Arbeiter auf eine Katakombe gestoßen, die mit Fresken ausgemalt ist“, schreibt Hartmut Bitomsky. „Die Arbeiten werden eingestellt, die Ingenieure kommen herbei und werfen einen Blick auf das Kunstwerk. / Zwei Jahrtausende hat es unentdeckt überdauert, doch jetzt verblassen die Farben augenblicklich, als hätte sie nur ein Hauch eben hingeatmet. / Die Höhle ist geöffnet, und die Luft, in der wir leben, dringt ein und vernichtet die Fresken. Man sieht, wie die Bilder verschwinden. Diese kleine Episode aus Fellinis Film läßt den Tod zu uns sprechen, es ist ein Tod, der mit dem Wesen des Kinos zu tun hat. In seiner Schrecksekunde macht er deutlich, wie unbeholfen und unvermögend die Menschen sind. Sie finden eine ganze Welt vor und bleiben doch mittellos.“ (Hartmut Bitomsky, Das Kino und der Tod, 1990)

La__Dolce_Vita_4.pngLa dolce vita, 1960

Anfänge

Als der Regisseur Roberto Rossellini im Spätsommer 1944 in Rom ein Drehbuch mit dem Arbeitstitel „Storie di ieri“ („Geschichten von gestern“) verfilmen will, aus dem dann Roma città aperta werden wird, stöbert er das junge Allroundtalent Fellini in einem ‚Funny Face Shop‘ auf, einem Laden, an der Via Nazionale, wo sich die heimkehrenden US-Soldaten für ein paar Dollar von einem italienischen Künstler konter-feien lassen. Mit 24 Jahren verzeichnete der begnadete Karikaturist Fellini bereits beachtliche Erfolge als Satiriker, als Radioautor und auch als eine Art „Drehbuchdoktor“. Mit Roma città aperta (1945) beginnt eine weitere Lehrzeit …

Lesen Sie den vollständigen Artikel in unserer Printausgabe FAQ 55 

Eine aktuelle Publikation zu Federico Fellini:

Federico Fellini: Ich bin fellinesk. / Fellini. Raccontando di me

Gespräche mit Costanzo Costantini.

Aus dem Italienischen von Thomas Bodmer.

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