„Monster gibt es, aber es sind zu wenige, um eine echte Gefahr darzustellen. Gefährlicher sind gewöhnliche Menschen, Funktionäre, die bereit sind, zu glauben und zu handeln, ohne Fragen zu stellen.“ Diese Sätze des Schriftstellers Primo Levi, der das Konzentrationslager Auschwitz überlebt hat, markieren mittels Insert den Beginn von Final Account – und dieses Diktum erweist sich als durchaus programmatisch. Bereits 2008 hatte Regisseur Luke Holland begonnen, Zeitzeugen, die in Hitlers „Drittem Reich“ aufgewachsen waren, zu befragen. In diesen Interviews finden sich die von Primo Levi angesprochenen „gewöhnlichen Menschen“, ohne deren Zutun – oder oft auch Wegschauen – das nationalsozialistische Regime seinen mörderischen Rassenwahnsinn, der schließlich im größten Verbrechen der Geschichte, dem Holocaust, mündete, nicht möglich gewesen wäre. Holland zeigt anhand der Befragten die durchaus unterschiedlichen Umgänge mit Hitlers Herrschaftssystem: Zu den Gesprächspartnern zählen Angehörige der SS, Wehrmachtssoldaten, aber auch Menschen, die den Alltag in Nazi-Deutschland als Zivilisten erlebt hatten. Die Erinnerungen sind nicht nur wegen des mittlerweile großen zeitlichen Abstands ebenso mannigfaltig wie ambivalent. Eine alte Dame ruft sich angesichts ihrer Mitgliedschaft im „Bund deutscher Mädel“, einer der zahlreichen Vorfeldorganisationen, mit denen die Nazis die Gesellschaft durchzogen und unter ihre Kontrolle brachten, partout nur an die schönen Lieder ins Gedächtnis, die man bei ausgedehnten Wanderungen intoniert hatte. Ein ehemaliger SS-Mann kann auch heute nichts Verbrecherisches an den Ereignissen der Reichspogromnacht im November 1938 finden – erst auf Nachfragen ringt er sich dazu, durch dass „strenggenommen, doch Eigentum verletzt worden sei“. Aber auch einige jener Stimmen sind zu hören, die Zeugnis darüber ablegen, dass man durchaus schon früh die zahllosen Verbrechen, die die Nazis verübt hatten, erkennen konnte.
Anhand dieser Gesprächsdokumente verdeutlicht Holland das Bild eines totalitären Regimes zwischen Mitläufern, Tätern, aber auch Bürgern, die sich dem staatlich orchestrierten Unrecht weitgehend ohnmächtig und hilflos gegenüber sehen. Diese Interviewpassagen, die den Weg in die Diktatur – und den Alltag in einem derartigen System – auf beklemmende Weise nachzeichnen, zählen zweifellos zu jenen Passagen von Final Account, die im Gedächtnis bleiben, die immer wieder zwischengeschnittenen Sequenzen mit Archivmaterial erscheinen dagegen oftmals eher beliebig und verzichtbar. Das kann und soll jedoch den besonderen Verdienst Luke Hollands nicht schmälern, der aufgrund des fortgeschrittenen Alters der Zeitzeugen eine der letzten Gelegenheiten genutzt hat, um ein beeindruckendes Stück „Oral History“ mit besagten Interviews festzuhalten. Final Account wird dabei auch zu einem Vermächtnis Luke Hollands, der im Juni 2020 kurz nach Fertigstellung des Films im Alter von 71 Jahren verstarb.
Final Account
Dokumentarfilm, Großbritannien/USA 2020
Regie: Luke Holland
DVD und Blu-ray
Universal
Erscheint am 14. Juli