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Frauen unter Einfluss

Der queere Neo-Noir „Love Lies Bleeding“ mit Kristen Stewart ist auch ein Speicher der Subkulturen.

Wer erinnert sich noch an Bronski Beat? Die britische Band, deren Synthie-Melodien viele Menschen durch die achtziger Jahre begleitet haben. Dazu die Stimme von Jimmy Somerville, deutlich höher als die von Marc Almond, der aus einer ähnlichen Welt kam. „Smalltown Boy“ hieß der erste Hit von Bronski Beat, der Unterschied zwischen Boy und Girl sollte bewusst verwischt werden. Nun taucht der Song, der nie wirklich weg war, wieder auf, zu Beginn des Films Love Lies Bleeding von Rose Glass. Die kleine Stadt, die nicht nur Bronski Beat zu einer universalen Chiffre erklärten, liegt in diesem Fall in New Mexico, und der Smalltown Boy ist ein Tomboy. Sie heißt Lou, gespielt wird sie von Kristen Stewart, in der ersten Szene sehen wir eine Hand von ihr tief in einem verstopften Toilettenabfluss. Damit wird schon deutlich, dass Lou nicht nur einen Scheißjob hat, sondern vielleicht auch ein Scheißleben.

Allerdings gibt es auch in kleinen Städten die Möglichkeit, dass sich etwas ändert. Es muss nur jemand des Weges kommen. Jemand wie Jackie Cleaver, die in dem Fitness-Studio auftaucht, in dem Lou die Managerin ist. Jackie ist Bodybuilderin. Sie darf keinen Tag Pause machen beim Muskelaufbau. Sie ist auf dem Weg nach Las Vegas, wo sie an einem Wettkampf teilnehmen will. Aber bis dahin ist noch ein bisschen Zeit. Sie bleibt ein wenig hängen an diesem gottvergessenen Ort. Und wie es eben oft so ist, wenn jemand neu in eine kleine Welt kommt: Innerhalb kürzester Zeit ist Jackie stark in die Angelegenheiten verschiedener Menschen verstrickt. Mit Lou hat sie eine Affäre, vielleicht sogar mehr als nur eine Affäre. Davor hat sie aber auch noch mit Lous Schwager JJ geschlafen, einem gewalttätigen Arschloch, und schon in der ersten Szene hat sie den Mann kennengelernt, der in der Stadt die wichtigste Instanz darstellt: Er heißt auch Lou, er ist der Vater von Lou (Louise), und es deutet alles darauf hin, dass die Gewaltverhältnisse, die hier alles durchziehen, von ihm ausgehen. Er betreibt eine Shooting Range, einen Schießstand, an dem sich Waffennarren ausleben können. Ed Harris spielt diesen Lou als einen legendären Fiesling, eine Figur aus Alpträumen.

Rose Glass wurde 2019 mit dem Psychothriller Saint Maud bekannt, in dem eine Palliativpflegerin sich deutlich zu obsessiv für eine lesbische Sterbende zu interessieren begann. Dass sie nun mit Love Lies Bleeding aus England nach Amerika ging, passt zu dem ehrgeizigen Vorhaben: ein Kleinstadt-Noir, der tief in der Mythologie des Kinos verwurzelt ist, aber auch in einer konkreten Ära. Im Fernsehen ist zu sehen, dass in Berlin die Mauer fällt – ein weltgeschichtliches Ereignis, von dem Lou und Jackie weniger tangiert werden als von der Kultur der gefährlichen Selbstoptimierung, für die das Bodybuilding steht. 1976 kam der Film Stay Hungry mit Arnold Schwarzenegger heraus. Was da noch eher so tat, als wäre es eine Komödie, wurde bald zu einem brutalen Business, in dem Nahrungsergänzungsmittel noch ein harmloser Ausdruck für die vielen Substanzen sind, die Leute einwarfen, um groß und stark zu werden.

Auch Lou kann Abhilfe schaffen, als Jackie ein wenig Doping braucht. Steroide sind in ihrem Studio gang und gäbe. Sie pushen bald auch die Erzählung von Love Lies Bleeding. Denn bei Jackie verschieben sich unter dem Einfluss (A Woman Under the Influence!) die moralischen Maßstäbe. Und so gibt es plötzlich einen Toten. Und Lou muss wieder einmal aufräumen. Sie wählt dafür einen Ort, der in hohem Maß symbolträchtig ist: eine dunkle Schlucht, in die man nicht bis auf den Grund hinunterschauen kann, und von der es heißt, dass ihr Vater dort eine private Müllhalde unterhält. Mit den Resten von allem, was in seinem Leben an Finsterem so
angefallen ist.

Love Lies Bleeding läuft also auf verschiedene Konfrontationen zu, in erster Linie mit einem männlichen, missbräuchlichen, sadistisch-kalten großen Ego. Rose Glass scheut dabei vor drastischen Gewaltszenen nicht zurück, sie weiß aber auch in wichtigen Momenten die Register des Absurden oder des Surrealen (oder des Unbewussten) zu bespielen. Dass Jackie irgendwann nach Las Vegas kommen wird, und dass sie an dem Wettbewerb teilnehmen wird, das ist mehr oder weniger von Beginn an klar. Was Glass aus diesem Auftritt dann aber konkret macht, das ist ein genresprengender Höhepunkt, zugleich eine Art Liebesakt in wilder Verdrehung. Allein für diese Szene sollte man Love Lies Bleeding schauen …

Lesen Sie den vollständigen Artikel in der Printausgabe des FAQ 76

 

LOVE LIES BLEEDING
Thriller/Drama, USA/Großbritannien 2024
Regie: Rose Glass,
Drehbuch: Rose Glass, Weronika Tofilska, Kamera: Ben Fordesman, Schnitt: Mark Towns, Musik: Clint Mansell, Kostüm: Olga Mill
Mit: Kristen Stewart, Katy O’Brian, Ed Harris, Anna Baryshnikov, Jena Malone, Dave Franco, Keith Jardine
Verleih: Filmladen, 104 Minuten
Kinostart: 18. Juli

 

| FAQ 76 | | Text: Bert Rebhandl
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