Berlin wird immer größer,/ Es hat Peripherien,/ Die immer weiter weichen/ Im Weichbild von Berlin./ Lebt man auch dort jahrein, jahraus,/ Man kennt sich niemals ständig aus./ Berlin ist ja so groß – so groß – so groß –/ Denkt man, man kennt Berlin,/ Dann ist’s schon wieder größer,/ Als wie es früher schien.“ Das Gedicht von Otto Reutter aus dem Jahr 1913, als Motto vorangestellt, bringt auf den Punkt, was sich dem Autor Hanns Zischler mit Blick auf die historischen Entwicklungysphasen – die Ansiedlungen entlang der Flussläufe, im 16. und 17. Jahrhundert erweitert über Damm- und Brückenanlagen bis zur räumlichen Expansion seit Beginn der Industrialisierung und dem Bau von Schienenwegen – ebenso zeigt wie angesichts der gegenwärtig wachsenden Bevölkerungszuwanderung in die Hauptstadt: „Berlin ist heute keine sehr große Stadt. Es ist gemessen an seiner Einwohnerzahl eine enorm ausgedehnte Stadt. Was ihm an Dichte fehlt, glaubt es durch Fläche wettmachen zu können.“
Hanns Zischler geht dieser eigenartigen Berliner Dialektik nach zwischen Expansionsdrang und Abrisslust, dem Erscheinungsbild der Metropole als Phantom einer Weltstadt durch Ausdehnung, dem Eindruck des „ewig Provisorischen“ (Rudolf Borchardt), charakterisiert durch Verdünnung und Desintegration und dem Mangel einer intensiven, dichten Stadtkultur. Zur Anschauung kommt dies in der ruhigen, sich in die Dinge versenkenden Betrachtung von Stadtplätzen, Parken, öffentlichen Orten, von Personen und ihren Wegen durch Berlin, und in einer denkwürdigen Auswahl von Bildern, selbst aufgenommenen Stadtfotografien und begleitenden Lektüren.
Berlin sei das Beispiel einer wurzellosen Großstadt, befand nach der NS-Machtübernahme der Berliner Stadtgeograf Friedrich Leyden 1934, nachdem er ins holländische Exil gegangen war, und was er als das „Amerikanische“ im Wesen dieser Stadt bezeichnete, sah er begründet im „überschnellen Pulsschlag des Alltagslebens“, dem Modern-Technischen und der „ungewöhnlichen Reklameentfaltung, die einen Ausfluß des hier aufs Höchste gesteigerten Wettbewerbs bedeutet.“ – Treffender kann eine Abbildung im Kontext kaum gewählt sein als hier: Das Foto eines Platzes aus dem westlichen Charlottenburg, aus der Höhe, vom Dach eines Hauses womöglich aufgenommen, zeigt ein gerundetes Viereck, von dem aus eine Allee, für eine kurze Strecke noch gesäumt von jüngst gepflanzten Bäumen, ihren Verlauf geradewegs Richtung Horizont dicht unter dem oberen Bildrand nimmt und in absehbarer Ferne eine Schneise durch wellenförmige Waldvegetation zieht. Berlin-Westend – man erkennt die Anlage des Platzes, könnte die gegenwärtige Topografie wie mit einer Fotofolie darüberlegen. „Baustellen – verkäuflich“ steht auf dem Schild am späteren Reichskanzlerplatz (dem heutigen Theodor-Heuß-Platz) zu lesen. Der Fotograf Titzenthaler hat 1907 „die gespenstische Bewegung des Hypothekenkapitals auf der Suche nach einträglicher Grundrente“ (Hanns Zischler), die Bauerwartung auf märkischem Sand, diese Einladung für Bauherren und Investoren auf phantastische Weise festgehalten in der Hochphase der „Gespensterfotografie“ – Fotos menschenleerer Orte oder auch aufgrund langer Belichtungszeiten von durch Bild laufenden Passanten schemenhaft verwischt. Daneben der sandige Grund einer Kiesgrube am Westend, die der Zeichner Heinrich Zille um 1900 fotografiert hat: Eindruck magischer Leere, als hätte man eine Realbühne für die am konkreten Ort unsichtbar stattfindenden Kapitalbewegungen vor sich, gleichsam ein Set für die Inszenierung der zukünftigen Stadt.
In einem anderen Kapitel – „Berliner Plätze, Gärten und Parke“ – kommt dieser Platz in der Gegenwart noch einmal vor, als eine zu groß geratene Verkehrsinsel, um welche die Fahrbahnführung ganz auf den flow des ungehemmten Automobilverkehrs ausgerichtet ist. Die Fahrbahnen sind zu Rennstrecken geworden, und der Autor erinnert sich an den Ausspruch eines Taxifahrers, der dort bei einem riskanten Überholmanöver abgedrängt worden ist: „Die Luft muss brennen, dann kommt Freude auf“. Solcher Alltagsausspruch, treffender Ausdruck des rauen berlinischen Sarkasmus erfährt als sprachliches Fundstück gleichen Rang wie die historischen Postkarten oder die im Buch wie archäologische Scherben abgebildeten diversen Ziegel-, Fliesen-, Klinker-, Zink-, Linoleum- oder Bakelittrümmer von unterhalb der Grasnarbe auf dem Berliner Teufelsberg, zu welchem die Hälfte des Trümmer- und Abrissschutts von Kriegsende bis Anfang der 1970er Jahre aufgeschüttet worden war – in die Bauruine eines nur bis zum Rohbauzustand begonnenen NS-Kolossalgebäudes („Hier ruht das gewesene Berlin als archäologisches pêle-mêle“). Sowohl eine Fortsetzung des Baus als auch ein Abriss waren für das arme Berlin im Nachkrieg zu aufwendig. Eine Luftaufnahme zeigt die „Umwandlung des Reliefs durch Trümmeraufschüttung“ nach 1945, dazu gefügt ist die Flora, welche sich dort rasch wieder ausbreitete, auch die „Avantgarde der Wildtiere“ darf hier nicht fehlen, allen voran die Wildschweine, welche sich über den wachsenden Grunewald bisweilen in Straßennähe und Gärten vordringen, ihrem untrüglichen Geruchssinn nach. Der Teufelsberg ist der größte Schuttberg von insgesamt elf „anthropogenen Erhebungen“, die in Berlin aus Trümmern und Abraum errichtet wurden. …
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