Einmal im Jahr, für zwei verlängerte Wochenenden, ist die österreichische Bezirkshauptstadt Krems an der Donau nicht nur Weinstadt, sondern auch Metropole der Pop-Avantgarde. Dafür sorgt das Donaufestival mit einem Programm aus Musik, Performance, Filmen und nicht zuletzt Podiumsdiskussionen jedes Jahr unter einem neuen Motto. Diesmal geht es um „New Society“, die „neue Gesellschaft“ – besteht sie aus lauter Individuen, zerfällt sie in viele Blasen? Im lokalen Kontrast von urbaner Kultur und idyllischer Tradition lassen sich solche Welt-Fragen trefflich erörtern, im Gespräch wie in künstlerischer Form.
Zur Eröffnung wendet sich das Donaufestival dem lokalen Umfeld zu: Die Alien Parade bzw. Alien Disko, ein Blasmusik-Kollektiv aus München, paradiert durch den Ort. Wie in kaum einem anderen Genre vermengen sich in der Blasmusik bodenständige und repräsentative Kultur, Hobby- und Profimusik, Anspruch und Unterhaltung, zeitgenössische Musik und Tradition. Blasmusik spricht zu allen, und so verlässt das Programm die Blase des Special Interest Festivals, wo sich die mehr oder weniger Gleichgesinnten treffen. Tatsächlich lebt progressiver und künstlerischer Pop ja von besonderer Individualität, insofern spaltet sich das umfangreiche Programm auch wieder in recht unterschiedliche Richtungen, und damit auch das Publikum. Viele werden einen Abend favorisieren und andere Tage ignorieren. Um zwei der bekanntesten Acts ins Spiel zu bringen: Wie groß ist wohl die Schnittmenge der Fans von Kate Tempest und Anna von Hausswolff?!
Diverse Avantgarde
Hier Spoken Word, hart und direkt, illusionsbefreit vorgetragen über staubtrockene, folkige Loops – da die schwebende Sirene der ätherischen Selbstreflexion in bester Tradition dunkler Romantik, mit einem Schuss Elektronik. Beide Acts kommen heuer nach Krems. „Sicher gibt es auch Blasen am Festival“, sinniert Thomas Edlinger, der künstlerische Leiter seit 2017, im Gespräch zum aktuellen Programm, „bestimmte Acts und Genres bringen ihre spezifischen Fans.“ Immerhin kamen schon Legenden wie die Einstürzenden Neubauten (2017) oder Throbbing Gristle (2008) – solche Acts bilden am ehesten einen großen Nenner im Rahmen der Programmatik, aber eigentlich geht es um etwas anderes: Metathemen zu finden für die Vielfalt progressiver Pop-Kunst und Denkweisen. Damit hat sich das Donaufestival, seit es 2005 von Tomas Zierhofer-Kin neu konzipiert wurde, ein Stammpublikum erarbeitet. Diese Leute suchen nach vielfältiger Inspiration und wollen gefordert werden. Musik mag immer noch das Aushängeschild sein, der Köder, doch Performance wird ebenso gern wahrgenommen. Zweifelsohne lassen sich in diesem Genre die komplexen Fragen besser reflektieren, die Edlinger in seinem Programmtext anspricht: Veganer*innen und Burschenschafter, „toxische Männlichkeit“ und „non-binäre Avantgarde“ und zahlreiche weitere aktuelle Gegensätze – können die denn überhaupt Teil derselben Gesellschaft sein? Welche Mehrheitsgesellschaft könnte denn eine allfällige Leitkultur definieren?
Endlich Kultur
„Kultur“ heißt passenderweise auch ein zentraler Performance Beitrag beim Festival – zentral, weil Auftragswerk und Uraufführung. El Conde de Torrefiel aus Barcelona zeichnen dafür verantwortlich, noch weiß man nur, dass sie beim Donaufestival im Gegensatz zu ihren bisherigen Arbeiten nicht nur auf der Bühne, sondern im gesamten Raum der Blackbox Halle agieren werden. Performance wie Tanz leben davon, dass der ausgestellte Körper komplexe Zusammenhänge spürbar macht – bei El Conde de Torrefiel wird der Kontext dafür durch Textprojektionen geschaffen, die persönlich, poetisch oder auch theoretisch sein können. Abgesehen vom Titel ist zum Zeitpunkt des Interviews aber noch nicht viel bekannt, eben weil es eine Uraufführung sein wird. Astrid Peterle, die Verantwortliche für Performance beim Donaufestival, ist entsprechend gespannt, denn „das andere kennt man ja schon“ – wenn man als Kuratorin Szene und Materie gezielt verfolgt, denn natürlich sind die eingeladenen Produktionen handverlesen, oft sind es österreichische Erstaufführungen.
Träume von gestern
Gut herausgreifen lässt sich dazu die Inszenierung „Paradise Now 1968-2018“ von fABULEUS aus Belgien. Unter der Ägide des Regisseurs und Choreografen Michiel Vandevelde haben Jugendliche ein Stück des Living Theatre aufgegriffen. Das war in den USA der späten Sechziger nicht nur eine wegweisende Truppe in Sachen Performance und postdramatisches Theater, dafür wurde die Gruppe verfolgt und wirkte als starke Inspiration der Szene bis hin zu den Doors – deren Aufruf „We want the world and we want it – now!“ in „When The Music’s Over“ geht auf das Living Theatre zurück. Nun reflektieren Jugendliche von heute die Konzepte, Träume und Utopien von vor 50 Jahren, aber auch die Zeit danach. „Das ist kein Jugendtheater im klassischen Sinn“, betont Astrid Peterle, denn fABULEUS haben eine lange Tradition in der Aufbereitung von politischen Inhalten mit Jugendlichen.
Highlights jenseits der Highlights
Klar hat auch ein künstlerischer Leiter immer Wunsch-Acts, die er gern einladen würde, aber keineswegs freie Hand. Oft stehen pragmatische Gründe wie Tour- und Produktionspläne im Weg, zugleich müssen die Acts ja auch zum Thema und zur Dramaturgie eines Abends passen. Heuer hat es mit den viel gelobten Flotation Toy Warning geklappt, deren bittersüßer Kammermusik-Pop am selben Tag wie der relativ arrivierte Technomeister Apparat am Programm steht (4. Mai, auch die Performance von El Conde de Torrefiel wird da geboten). Andererseits freut sich Thomas Edlinger diesmal besonders über Ben LaMar Gay, einen Electro Jazzer aus Chicago voll verspulter Musikalität.
Einen Hinweis wert ist auch Fatima Al Qadiri, die abstrakte Breakbeats mit arabischen Elementen kombiniert (wer kann, darf an Natacha Atlas-Remixed denken, von 1999). Zum Festival kommt die in Europa lebende Araberin anscheinend als hypererotische Kunstfigur, im Video-Interview online mit Gilles Peterson gibt sie sich dagegen unkompliziert als intellektuelle Produzentin. Ethnische Clubmusik wurde im Berlin Hype der 2000er völlig verdrängt, trotz aller Potenziale schien das zu traditionell und damit uncool. Umso erfreulicher, dass jemand diese Kiste wieder aufmacht, ebenso wie ja auch „Klassik“ seit einiger Zeit wieder ein heißer Bezugspunkt sein darf, genaugenommen die Haus- und Kammermusik. Deren Ästhetiken treffen bei Earthheater auf bizarr geschichtete Klangarchitektur. Mit Al Qadiri gemeinsam hat dieser Act, dass die Hochglanz- und Hightech-Videos fast ebenso wichtig sind wie die Musik und auch Teil des Auftrittes sein wird.
Das Festival als Ausnahmezustand
Sich mit komplexen Themen und verschiedenen Formaten an einem Abend auseinanderzusetzen, das ergibt sich beim Donaufestival fast zwangsläufig. Mehr als die Hälfte des Publikums kommt aus dem Wiener Raum, auch die internationale Wahrnehmung hat zugenommen. Der Trip nach Krems funktioniert als Festival im besten Sinn: Sich abseits von den (kulturellen) Routinen des Alltags konzentriert mit etwas Besonderem beschäftigen, darum geht es bei allen Festspielen. „Wir haben hier eine besondere Situation“, das schätzt Thomas Edlinger, „ wer einmal da ist, bleibt.“ In der Donaufestival-Blase, könnte man sagen. Stadt-Land, oder noch mehr zugespitzt, Metropole und Provinz, Avantgarde und Mainstream, Tradition und Moderne – die Gegenüberstellung verschiedener, scheinbar eindeutiger Gegensätze, wie sie Edlinger in seinem Programmtext anhand von aktuellen Themen betreibt, ist natürlich auch ein diskursiver Köder. Denn viel mehr als die Gesellschaft als Ganzes sind diese scheinbar eindeutigen Gegensätze ein Konstrukt. Damit werden sich wohl auch die Diskussionen beim Donaufestival befassen, aber genaugenommen entspricht das gesamte Programm mit allen Acts und ihren vielfältigen Spezialisierungen der Gesellschaft ganz wunderbar: Es ist ein ebenso irres wie reizvolles Pandämonium.
Wer nicht kommen will, muss lesen
Wenn das zu ungeordnet scheint, bietet sich ein Reader zum Donaufestival an, heuer mit 11 Essays auf 150 Seiten. Die Beiträge stammen zum Beispiel von Dirk Baecker, Isolde Charim oder Dietmar Dath, die zum Teil an den Diskussionen teilnehmen. Seit Thomas Edlinger die Leitung übernommen hat, werden theoretische Positionen zum jeweiligen Thema in einer Publikation versammelt, die beim Festival und über den Falter Verlag erhältlich ist. Nach den beiden Sammelbänden „Empathy“ (2017) und „Endlose Gegenwart“ (2018) wird nun eben die „New Society“ nach den Aspekten von „falscher“, „unmöglicher“ und „nächster“ Gesellschaft erörtert. Aber wie es wirklich ist, muss man vor Ort erleben.
FAQ verlost 2 x zwei Tagespässe für das Donaufestival in Krems für 26. April und 05. Mai .
Senden Sie bis 23. April eine E-Mail mit dem Betreff
„Donaufestival“ an gewinnspiel@faq-magazine.com
Der Rechtsweg ist ausgeschlossen!
Donaufestival Krems
26. April bis 28. April & 3. bis 5 Mai