Heutige Bauherren tragen, insbesondere wenn es ums Wohnen geht, zumeist vorgefertigte Bilder mit sich herum. Aus der Fülle der in Lifestylemagazinen und Einrichtungspostillen angebotenen Bilder wird, wie aus einem Versandhauskatalog, dasjenige ausgesucht, das dem persönlichen Geschmack zusagt. Denjenigen, die das Wohnen nicht nur als Geschmacks- und Privatangelegenheit sehen, sondern als eine kulturelle Tätigkeit mit weitreichenden Konsequenzen, weit über den persönlichen Bereich hinausreichend – also all denen, die sich vielleicht fragen, ob unsere Formen von Wohnen nicht doch noch verbesserungswürdig sind –, seien Josef Franks Schriften wärmstens empfohlen. Allerdings bietet Frank weniger Garniervorschläge für das Eigenheim als einige (zugegeben etwas kryptische) „Haus“-Übungen.
Im Gegensatz zu Adolf Loos, mit dem er häufig – so auch hier – gedanklich in Verbindung gebracht wird, war Josef Frank kein besonders klarer Schreiber. Wo bei Loos, dem begnadeten Essayisten, griffige Formulierungen und scharfsinnig-paradoxe Pointen einander über die Seiten hetzen und sich geradezu überschlagen, mäandern Franks Sätze weitschweifig, ufern aus, stehen in Widerspruch zueinander und scheinen oft genug nirgendwohin zu führen. Diesem stilistischen Unterschied entspricht aber auch ein Unterschied in der grundsätzlichen Methode, im Herangehen an die Welt.
Wenn Loos über Sitzmöbel, Fußbekleidung, Buchdruck und Luxusfuhrwerke schrieb, so behandelte er vornehmlich den Lebensentwurf des „modernen Menschen“, aus dessen Anschauungen und Überlegungen sich klare Handlungsanweisungen ableiten. Betrachtete Loos beispielsweise das Kunstgewerbe, kam er zu einem klaren Urteil: überflüssig. Betrachtete Frank das Kunstgewerbe, wechselte seine Perspektive zwischen der des Architekten, des Kunsthandwerkers und des Konsumenten – wobei er bei diesem noch zwischen dem gebildet-kritischen und dem unbedarft-sentimentalen unterschied. Je nach Standpunkt konnte sich das Kunsthandwerk somit als lebensnotwendig, belanglos oder eben auch schlicht als entbehrlich erweisen. Es erschließt sich nicht zwingend, welcher Anschauung er das Wort redet. Wo bei Loos der moderne Mensch, sein alter ego, in sämtlichen Fragen die letzte Entscheidungsinstanz ist, beobachtet Frank seine Umwelt und findet, „dass nichts so sein muss wie es ist und dass alles auch anders sein kann.“
Mit dieser Haltung unterschied sich Frank von all jenen Architekten, die für sich in Anspruch nahmen, zu wissen, wie etwas zu sein hatte, also eigentlich von fast allen Vertretern der zeitgenössischen Avantgarde. Bezeichnenderweise sollte Frank in seiner Arbeit dann auch Begriffe zulassen, die den bestimmenden Kategorien moderner Architektur entgegenliefen: Zufall statt Planung, Vielfältigkeit statt Einheitlichkeit, Unordnung statt Normierung, Mittel statt Extrem, das Banale, Kitschige und Ordinäre gegen das Gute, Wahre und Schöne.
Wogegen Frank sich vor allem verwehrte, war die Um- und Durchgestaltung sämtlicher Lebensbereiche, die die wesentliche Komponente des Wohnens, das Behagliche, das Bequeme, das Angenehme ausklammerte und somit auch den eigentlichen Zweck des Wohnen verunmöglichte: „Das Ziel, der erstrebte Rekord einer Einrichtung besteht nicht darin, diese möglichst reich oder möglichst einfach, sondern sie möglichst angenehm zu machen: ein Endziel, das in der Mitte liegt und deshalb schwer für denjenigen zu erfassen ist, der kein natürliches Gefühl hat.“
Die Kriterien zum Erzeugen von Behaglichkeit waren für Frank weniger formal, funktional oder ökonomisch bedingt, sondern hatten mit Abwechslung zu tun, mit der Vorstellung oder Beobachtung, dass Behaglichkeit auf der beiläufigen Wahrnehmung gewohnter, zufälliger, auf jeden Fall unterschiedlicher Formen, Materialien und Konfigurationen beruhte. Behaglichkeit konnte somit auf keinen Fall durch eine Umgebung „aus einem Guss“ hervorgerufen werden:
„Das Wohnzimmer, in dem man frei leben und denken kann, ist weder schön noch harmonisch noch fotogen. Es ist aufgrund von Zufälligkeiten entstanden, ist nie fertig und kann alles in sich aufnehmen, um die wechselnden Ansprüche seines Bewohners zu erfüllen. Ich nehme hier das Wohnzimmer als Beispiel, weil ich von ihm aus zu einem Architekturprinzip kommen will. Das Wohnzimmer ist für uns sozusagen das Endziel der Architektur, denn es ist derjenige Bestandteil des Hauses, der uns am wichtigsten ist; ich finde es deshalb für mehr geeignet von diesem beweglichen Detail auszugehen und dessen Prinzipien zu erweitern, als den umgekehrten Weg einzuschlagen und das Wohnzimmer als eine Art von Konsequenz eines bestimmten Architekturstils anzusehen und es in Einheitlichkeit mit diesem zu formen.“
Vergleicht man Franks Einrichtungen und Häuser mit Mies van der Rohes Villa Tugendhat von 1928, aber auch mit Loos’ Villa Müller in Prag von 1928–30, zwei Leitfossilien der Architektur der Zwischenkriegszeit, wird der Unterschied im Vorgehen deutlich. Frank verzichtet fast durchgehend auf raumbestimmende Wandverkleidungen und Raumteiler aus kostbarem Material, auf komplizierte Ein- und Nischenverbauten. Seine Inneneinrichtungen ab den 1920er-Jahren lösen sich, bis auf schlichte Einbauschränke, von den begrenzenden Wänden und bestehen aus beweglichen Gruppierungen von Einzelmöbeln, die allein durch ihre Aufstellung Raumnutzungen vorschlagen. Zwar sind seine Räume durchaus architektonisch definiert, gegliedert. Trotzdem entsteht, im Gegensatz zu den Villen Müller und Tugendhat, der Eindruck, dass der Raum hinter die Gegenstände zurücktritt, dass das Raumbestimmende an die Gegenstände delegiert wird und dadurch auch in andere Räume übertragbar wird.
Der Vorstellung vom Innenraum, in dem Möblierung und raumbildende Umhüllung ein symbiotisches Ganzes bilden (wandelbar bei Loos, unveränderlich bei Mies) stellt er eine abwechslungsreiche, topografisch gegliederte Hülle entgegen, die dem Bewohner zur Besiedelung nach eigenem Gutdünken angeboten wird: „Das moderne Wohnhaus entstammt dem Bohèmeatelier im Mansardendach. Dieses von Behörden und modernen Architekten als unbewohnbar und unhygienisch verpönte Dachgeschoß (…) das aus Zufällen aufgebaut ist, enthält das, was wir in den darunterliegenden, planvoll und rationell eingerichteten Wohnungen vergeblich suchen: Leben. Große Räume, große Fenster, viele Ecken, krumme Wände, Stufen und Niveauunterschiede, Säulen und Balken, – kurz all die Vielfältigkeit, die wir im neuen Haus suchen, um der trostlosen Öde des rechteckigen Zimmers zu entgehen. (…) Die Arbeit des Architekten ist nun das Ordnen all dieser Elemente des Dachausbaus zu einem Haus.“
Franks Abtasten von Begriffen wie Vielfältigkeit, Abwechslung und insbesondere Zufall auf ihre Verwendbarkeit als Gestaltungsprinzipien ist aber weit mehr als ein Rezept zur Herstellung pittoresker Effekte à la Radical Chic. Zu seiner Aussage „dass wir unsere Umgebung so gestalten sollen, als wäre sie durch Zufall entstanden“ merkte der Wiener Architekt Hermann Czech in den 1980er-Jahren an: „[D]iese zunächst simple und einleuchtende Formulierung enthüllt ihre Vielschichtigkeit erst, wenn man sie zur Anwendung bringen will. (…) Alle Annäherungen münden in einer schillernden Ambivalenz: angefangen von der Frage, ob es sich um eine Angleichung zur Ähnlichkeit oder um eine Vortäuschung (‚als ob‘) handelt; ob das Ziel durch Einflussnahme oder vielmehr durch Vermeiden der Einflussnahme erreicht wird; ob der Zufall nicht gerade der Methode bedarf; ob der Handelnde als Laie oder als Experte definiert ist (…)“. Nach Czech „trifft diese harmlose Formulierung jedenfalls das Wesentliche der Architektur, von welcher Fragestellung auch immer man an sie herantritt“.
Man könnte auch sagen, dass Franks Heranziehen des Zufalls als Gestaltungsprinzip symptomatisch für sein Verständnis von Architektur ist: für ein Sich-Einlassen auf Gedankengänge, deren Ausgang offen ist. Wo möglicherweise auch andere Gestaltungs(un)befugte ihre Vorstellungen einbringen können: In seiner Geschichte „Nordseekrabben“ lässt Bert Brecht einen gewissen Müller, der gerade die stilreine Wohnung seines Gastgebers auf den Kopf gestellt hat, folgende Ansprache halten: „Der Mensch ist an sich also ein elender Wurm, der alles gerne so haben möchte, daß es zusammenpaßt. Hellblau, dunkelblau, schwarzblau. Aber andrerseits ist der Mensch, besonders nach Genuß von Nordseekrabben, wie ein furchtbarer Wirbelwind, der die großartige Vielfältigkeit und die bewundernswürdige Disharmonie der ganzen Schöpfung vermittels gewalttätiger Anhäufung von amerikanischen Patentliegestühlen, schlichten Waschlavoirs und alten, ehrwürdigen Zeitschriften wiederherstellt. Es ist dem Menschen nicht gestattet, vermittels Sonnensegeln und Bechsteinflügeln in den Himmel zu wachsen. Eine Wohnung ist dort, wo ein Mensch seinen alten Kragen in die Ecke geworfen hat. So hat es Gott bestimmt, nicht ich, Müller. Basta. Und jetzt ist es eine Wohnung.“
Josef Frank (* 15. Juli 1885 Baden bei Wien; † 8. Jänner 1967 in Stockholm) war ein Wiener Architekt der Zwischenkriegszeit, der sich insbesondere mit dem Wohnen auseinandersetzte. 1932 wurde unter seiner Führung die Wiener Werkbundsiedlung errichtet, ein gebauter Beitrag zur zeitgenössischen Debatte über das Wohnen. 1933 emigrierte er von Wien nach Stockholm, wo er bis auf einen Aufenthalt in New York zwischen 1942–46 bleiben sollte, und wo er auch starb. Heute wird Frank als der wichtigste Vertreter der Wiener Moderne der Zwischenkriegszeit angesehen.
Frank baute etwa ein Dutzend Einfamilienhäuser, sieben soziale Wohnprojekte, vor allem Siedlungen, aber auch Wohnbauten für die Stadt Wien. Bisher sind an die 70 Inneneinrichtungen von ihm bekannt, die meisten davon nur durch Abbildungen. Neben seinen theoretischen Schriften verfasste er auch zwei Romane, die Satire The Four Freedoms und zwei Theaterstücke. Für seine Wiener Firma Haus & Garten und später für das schwedische Unternehmen Svenskt Tenn“ entwarf Frank über 1.000 Einzelmöbel, darunter fast 200 Stühle und über 170 Stoffmuster, von denen einige bis heute ununterbrochen in Produktion geblieben sind.
Josef Franks theoretische Schriften erscheinen erstmals vollständig auf Deutsch und Englisch, herausgegeben von Tano Bojankin, Christopher Long und Iris Meder im Metro Verlag. Das Vorwort wurde von Denise Scott Brown verfasst – und sie schließt mit einem Satz, den man selbst Josef Frank nachrufen möchte: „Josef, friend and colleague (…). Your efforts were not in vain. Your art and your thought will have a good future.“
Josef Frank: Schriften/Writings (dt./engl.)
2 Bände. 900 Seiten, mit Abbildungen.
Metro Verlag, € 98