Die Zukunft des Kinos wird meistens an Namen festgemacht. Das hilft bei der Orientierung. Und indirekt geht es schließlich bei allen Filmen auch darum: Zeigt sich hier etwas davon, wie das Medium weitermachen kann in Zeiten von TikTok, Populismus und Wetterextremen? Auch bei der Viennale werden 2023 wieder Namen zirkulieren, ein Festival ist ja eine Art Wettbüro auf neue Perspektiven. Und so viel kann man über den Jahrgang schon einmal sagen: Der Blick ist eher nach vorn gerichtet als zurück, auch wenn es durchaus ein paar schöne klassische Arbeiten zu sehen gibt.
Was die Zukunft des Kinos betrifft, könnte man Radu Jude an die vorderste Front stellen. Der rumänische Intellektuelle begann im Grunde halbwegs konventionell, 2015 drehte er mit Aferim! in Schwarzweiß sogar so etwas wie ein National-epos als Western aus dem trockenen äußersten Osten Europas. 2021 gewann er bei der Berlinale mit Bad Luck Banging or Loony Porn, einem Film, der schon deutlich erkennen ließ, dass sich da jemand nichts sch***t, wie man in Österreich sagt. Bei der Viennale ist er dieses Jahr mit Nu astepta prea mult de la sfârsitul lumii (Do Not Expect Too Much of the End of the World) vertreten, und es wird vermutlich nicht leicht sein, etwas ähnlich Radikales auf dem Festival zu finden.
Es ist übrigens auch ein Film, in den man alle Politiker und Grantigen schicken sollte, die bevorzugt rumänische Rechte in Europa und Österreich beschneiden wollen, damit das, was EU-Standard sein sollte, hiesiges Privilegium bleibt. Jude erzählt von einer jungen Frau namens Angela, die als Freelancerin für einen Medienkonzern arbeitet, dessen Eigentümer in Österreich sitzen. Es gibt eine großartige Videokonferenz, in der Nina Hoss als Frau Goethe (!) aus der Zentrale zugeschaltet wird, ein räudiges Dokument digitaler All- und Ohnmacht. Angela lässt mit Instagram-Posts Druck ab, sie zeigt sich darin als Glatzkopf mit dem obszönsten Vokabular zwischen Buzău und Galați. Dann muss sie schon wieder los, um bei der medialen Elendsausbeutung ihre Auftraggeber nicht hängen zu lassen. Judes Film wirkt, als wäre er quasi im Vorbeigehen entstanden, ist aber auf eine anarchische Weise kunstvoll, und im übrigen eine Faust, mit der alle Displays zerschlagen gehören, die das Elend der Welt auf Distanz halten.
Würde man das Viennale-Programm als Diagramm entwerfen, dann führte von Jude eine Linie aus Bukarest nach Brüssel, also von der EU-Peripherie ins Zentrum, zu Here von Bas Devos. Dieser ganz andere, fragile, stille Film findet ein globales „Hier“ in einer europäischen Hauptstadt, in der Stefan, ein rumänischer Arbeitsmigrant, und Shuxiu aus China aufeinandertreffen. Bei Devos ist das geschäftige, betonierende Leben an den Rändern durchaus präsent, er sucht hinter der ständigen Versiegelung aber nach etwas anderem, und er findet es in der Vegetation, in dem unbemerkten Wachstum, das in keinem Bruttosozialprodukt auftaucht. Stefan könnte ein Cousin von Angela sein, zu zweit sind sie und die Filme, in denen sie vorkommen, schon ein kleines Netzwerk. Und von Netzwerken erzählt Devos, wenngleich in einer poetischen Form. Auch er öffnet dem Kino eine Zukunft.
Ohne Vergangenheit begreift man allerdings keine Zukunft, und so beruht Innovation eben auch immer auf Vorkenntnissen. Das lässt sich sehr schön an einem der interessantesten Debüts bei dieser Viennale ersehen: Die ängstliche Verkehrsteilnehmerin von Martha Mechow. Eine junge Deutsche namens Flippa macht sich auf nach Sardinien, wo sie ihre Schwester Furia zu finden hofft, die vor Jahren schon die Familie verlassen hatte. Es stellt sich heraus, dass Furia sich in einem seltsamen Resort aufhält, wo Frauen sich von ihren Männern erholen können, wo sie allerdings auch tiefsinnige Gespräche mit sensiblen Italienern führen können. Martha Mechows Film erwuchs aus theatralischen Formen, aus einer Filmshow. Mythologisches Erzählen schlägt in Moderne um, die Frauenemanzipation lässt durchaus Wiederverzauberungen der Welt zu.
Mit diesen drei Namen kann man schon einmal ein gutes Koordinatensystem für eine Viennale aufstellen, die dann mit ihren Schwerpunkten auch noch ein paar dezidiert revolutionäre Pflöcke einschlägt. Eine „Monografie“ ist dem französischen Paar Nicolas Klotz und Elisabeth Perceval gewidmet, die sich seit vielen Jahren mit Themen wie Migration und Widerstand beschäftigen. Nous disons révolution heißt ihr Schlüsselwerk aus dem Jahr 2021, ein weltumspannender Essay über die Macht der ungebärdigen, tanzenden Körper, der in einer ekstatischen Viertelstunde kulminiert, in der das filmende Paar sich in eine Menge in Brasilien wirft, die mit Samba an das Ende der Sklaverei erinnert – und dieses Ende zugleich antizipiert, universalisiert, postuliert und in einen unwiderstehlichen Hüftschwung des Weltgeists verwandelt. Sollte Nous disons révolution eine Vorstellung im Gartenbaukino haben, was unbedingt anzunehmen ist, dann müssten im Grunde danach 700 Menschen den Saal als Bewegung verlassen, von der dann ganz Österreich, Europa, die Welt revolutionär erfasst werden. Mindestens aber stehen die DJs, die an diesem Abend später noch irgendwo für die Viennale auflegen müssen, ein bisschen unter Druck.
Die Filme von Klotz/Perceval sind manchmal nah an der Grenze des Prätentiösen, und sie sind natürlich auch Ausdruck der Strukturen eines europäischen Kunstbetriebs, der ständig Menschen irgendwo hinschickt, damit sie in Kinshasa oder sonstwo Verbindungen zwischen Zentrum und Peripherie herstellen. Aber zugleich sind sie eben innerhalb dieses hegemonialen Betriebs genuine Dokumente einer Verletzlichkeit und Durchlässigkeit, mit der Solidarität oder Radujudismus erst beginnen.
Nicht in jeder Vorstellung eines Festivals muss es allerdings um Alles gehen. Es gibt auch einen Viennale-Alltag, da schauen sich dann Menschen Filme an, die ohnehin bald ins
Kino kommen (zum Beispiel Anatomie d’une chute von Justine Triet, dieses Jahr in Cannes erfolgreich, oder Poor Things von Yorgos Lanthimos, in Venedig mit dem Goldenen Löwen prämiert), oder die bei gut eingeführten Autoren auf den neuesten Stand bringen (Perfect Days von Wim Wenders, Roter Himmel von Christian Petzold, Club Zero von Jessica Hausner), oder die alte Meisterschaft bestätigen. Letzteres trifft bei Cerrar los ojos von Victor Erice zu. 40 Jahre sind seit El Sur – Der Süden vergangen, einem seinerzeitigen Programmkinoklassiker. Inzwischen ist Erice 83 Jahre alt, und jetzt hat er ein echtes Spätwerk vorgelegt, einen Film über das Kino, in dem es um einen verschwundenen Schauspieler geht, um ein unvollendetes Projekt, von dem aber doch einige Rollen vorliegen, die schließlich in einem alten Kino auch vorgeführt werden. Für Erice ist das Kino eine Kunst der Erinnerung. Er steht damit in der großen europäischen Tradition, die im Roman mit Proust begann, und zu der übrigens auch der chilenische Franzose Raúl Ruiz gehört, dem die Viennale-Retrospektive gewidmet ist. Das lässt sich alles mit einem Interesse für das Kommende gut verbinden. Eines Tages werden wir uns an die Viennale 2023 als das Festival erinnern, an dem wir mit Radu Jude, Bas Devos, Martha Mechow, Nicolas Klotz, Elisabeth Perceval und sogar Victor Erice sehen konnten, dass das Kino absolut zukunftsfähig ist.
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Viennale – Vienna International Film Festival
19. bis 31. Oktober
www.viennale.at