Stellen Sie sich vor, Sie sind ein junger Punker, eine junge Punkerin. 14, 15 Jahre alt. Sie hören die beste Musik der Welt. The Clash, die Pistols, die Buzzcocks, die frühen Public Image Limited, Joy Division. Sie hören die schlechteste Musik der Welt. Britischen und deutschen – bewahre! – Zweit- und Drittgenerationspunk. Das geht schon irgendwie zusammen. Vor Speed und Amphetaminen haben Sie (noch!) Respekt, aber die alkoholische Medikation passt schon. Hey! – Die Welt dreht sich doch! Was in einer Stadt wie Linz ein Wunder ist. Ein hart erkämpftes. Ein mit vollem Einsatz einer leblosen Umgebung abgerungenes. Sie üben sich in einer Königsdisziplin des Punk, dem Abhängen. An einem Platz, der Stadtwerkstatt heißt. Eines Nachmittags fährt dort eine Band vor. The Fall. Aus Manchester. Sie haben den Namen schon gelesen. In einem Musikmagazin. Deren Sänger Mark E. Smith sagt gute Sachen. „Punk? War ein paar Abende gut. Aber dann nach dieser Geschichte mit den Sex Pistols und Bill Grundy im Fernsehen waren auf einmal deine Großmutter und dein Postbote Punk.“ Wie heißen die? Der Herbst? Nein! Die heißen nach einem Buch von Camus. Camus? Wie Sartre, nur anders. Liest sich interessant, aber schwierig. Die Band, nicht Camus. Aber – nette Menschen. Als sie Richtung Stadt gehen, werfen sie ihnen und ihren Freunden Bierdosen zu. Das Konzert spätnachts ist eine Offenbarung. The Fall aus Manchester, mit dem Ehepaar Mark E. und Brix Smith im Zentrum spielen schon einen Tag vor dem offiziellen Gig. Für zwei, drei Handvoll Menschen. Umwerfend. Zwei Schlagzeuge. Viel Material, das wenig später auf Perverted By Language zu hören ist. Selbst wenn sich das zeitlich nicht ausgeht – Sie könnten schwören, dass Hotel Blödel in dem Hotel geschrieben wurde, in dem die Band untergebracht war. Später von der ÖVP und der Landesregierung genutzt. Karma. Smile muss über die New Wave-Wichser sein, die sogar in Linz herumlaufen. Was zur angewiderten Blässe Mark E. Smiths passt, als Sie ihn Jahre später bei einem Festival in Linz wiedersehen. Wie ein gekränkter Racheengel taumelt Smith da durch die herausgeputzten jungen Menschen, die in der Einser-Panier angereist sind, um dem ebenfalls spielenden Nick Cave zu huldigen. Wird er jemanden auffressen?
1982 spricht von der hohen Stadtwerkstatt-Bühne aus diese beste Musik der Welt erstmals zu Ihnen. Erzählt etwas, entstanden aus ganz spezifischen Situationen. Zu ganz spezifischen Situationen. Sie verstehen kein Wort und trotzdem ist alles glasklar. Totally Wired, Lie Dream Of A Casino Soul. Songs, die sich einprägen. Die man später auf Tonträgern tatsächlich wiederfindet. Dannach fraternisieren mit The Fall. Drummer Karl Burns landet bei Ihrem besten Freund. Uriniert, rauschbedingt räumlich desorientiert auf die eigene Matratze. Schläft weiter. Egal. In seiner 2008 erschienenen Autobiografie Renegade führt Mark E. Smith Burns so: „Signed in 1977 / sold in 1998.“ Das eigentliche, auch beworbene, bummausverkaufte Konzert vertieft die junge Liebe. Die Gewissheit wirklich einer besten Band der Welt begegnet zu sein. Nachher ein Moment, von dem Sie ihren Enkerln erzählen könnten. So Sie jemals welche haben. Auf der Bühne stehen mit Mark E. Smith. Post Festum. Brüderlich teilt er den Hochprozentigen, ermuntert zu tiefen Schlucken. Mit ein paar Handzeichen beaufsichtigt, nein, kommandiert er den Rest der Band beim Einladen des Equipments. Selbst legt er nur Hand an die Flasche. Nicht das beste Role-Model, sollten Sie jemals vorhaben in einer Band zu spielen. Obwohl? An beiden Abenden haben The Fall den vielleicht größten ihrer vielen großen Songs gespielt. Hip Priest. Mark E. Smiths Über-Lied, sein vielschichtiger Theme-Song: „And all the good people know, he is not appreciated.“
Es ist ein Fall von kosmischer Gerechtigkeit, dass Teile dieses brillanten Stücks an prominenter Stelle im Film Das Schweigen der Lämmer zu hören sind. Von einigen Singles in den britischen Top 40 abgesehen jener Moment, in dem The Fall einer Mainstream-Wahrnehmung am nächsten kommen.
Death to All Who Dare Rewrite What Has Been Written
Von wegen „he is not appreciated“. Im Jahr 2008 ist die Wertschätzung des am 5. März 1957 in Salford bei Manchester geborenen Mark E. Smith und seiner 1976 gegründeten Band The Fall auf einem all time high. Ian Curtis hin, Morrissey her, er ist der größte Musik-Sohn seiner Stadt. Ihm selbst ist es wichtiger „to be a man than to be an artist“. Und als weithin wohlgelittener englischer Anti-Prominenter mit der Verpflichtung zur Querulanz sieht er das Vorlesen der Fußball-Ergebnisse im Radio als Bestätigung seines Status.
Von einer Rennaissance zu sprechen wird der Sache dabei allerdings nicht gerecht.
Es sind vielmehr die immer wieder beeindruckenden künstlerischen Resultate von Mark E. Smiths unbeirrbarer nordenglischer Artbeitsethik, die Aufmerksamkeit und Verehrung (von Publikum und Kritik) hervorrufen und rechtfertigen.
Nachdem sich die Band 1998 in New York nach einer Schlägerei auf der Bühne (keine Novität in der wonderful and frightening world of The Fall …) auflöst, übersteht Smith einen kurzen Aufenthalt auf der berüchtigten Gefängnisinsel Riker’s Island. Zurück in England baut er die Band wieder zusammen. Abermals stellt er unter Beweis, was er einmal so formulierte: „Wenn es ich und deine Großmutter an den Bongos sind – ist es noch immer The Fall.“ Eine gelassen ausgesprochene Wahrheit. Fall-Fanatikern mit zuviel Freizeit beschert sie das schöne Hobby des Besetzung-Zählens. Der momentane Stand liegt bei 60 The Fall Line-Ups …
Dem achtbaren Studio-Album The Unutterable aus dem Jahr 2000 folgen mit The Real New Fall LP (Formerly Country on the Click) – 2003, erstmals mit der neuen Mrs. Smith, Eleni Poulou, an den Keyboards – und Fall Heads Roll (2005) Arbeiten, die sich als konsequente Hauptwerke in einen stetig wachsenden Kanon eintragen. Sich zu The Fall-Essentials wie Hex Enduction Hour (1982), This Nation’s Saving Grace (1985) oder The Infotainment Scan (1993) gesellen. Als Texter und Sänger ist Mark E. Smith heute längst in einer Liga ganz of his own. In frühen Jahren definierte er seine Arbeit dabei als „ich rappe meine Neurosen“. Wenn dem so ist, liefern diese Neurosen das Ausgangsmaterial – Smith hat auch zwei Spoken Word-Alben veröffentlicht – für einen der dichtgewobensten Lyrics-Kataloge jenseits von Bob Dylan. (Sci-Fi/Krimi-)Story-Songs, krude Verschwörungs-Theorien und dann wieder extrem geerdete, dabei vielschichtige Reflexionen britischer Alltagsphänomene. Gesungen-gekrächzte Pop/Politik/Gesellschafts-Kritik, die einfach immer wieder die richtigen Fragen stellt wie Who Makes The Nazis? Absurd komische historische Verschwörungstheorien, oft auch verblüffend griffige Songtitel wie Leave The Capitol oder Spoilt Victor-ian Child finden sich da. In die der Mann, dem das Slogan-Dreschen des Punk und das emotionale Verkürzen/Zuspitzen herkömmlicher Pop-Texte zutiefst zuwider sind, weit mehr steckt als selbst native speaker zu fassen vermögen. „Raw music with real weird vocals on top“ war seine akkurate Beschreibung der frühen Fall. Nicht zu vergessen der verquere, assoziationsreiche (britische) Humor, der in den letzten Jahren immer deutlicher zu Tage tritt. In die Karten seiner schreiberischen Kunst lässt sich Mark E. Smith dabei nicht schauen. Nur soviel gibt er dazu in Renegade preis: „Some people aren’t as fast as other people. Some people have different talents. I can’t use a computer. I still use a pen and paper to write.“
Im Oktober 2005 verstirbt die englische Radio-Legende John Peel. Ein leidenschaftlicher Musikmensch, der noch zu Lebzeiten zu Protokoll gegeben hat: „Wenn ich morgen tot umfalle, gibt es nichts über das ich mich beschweren könnte, außer dass nächstes Jahr ein neues Fall-Album erscheint.“ In seiner riesigen Plattensammlung standen die Veröffentlichungen von The Fall separat, so sehr schätzte er sie. Der tiefe Respekt war wechselseitig. Mark E. Smith sagte 1999 über Peel, der für einen Großteil des Radio-Airplays seiner Band verantwortlich war und dem er, der über alles und jeden Lästerliches zu äußern pflegt, tatsächlich zugestand, die Verkörperung eines respektablen alternativen Musikverständnisses zu sein: „Ohne John würden alle Kinder weinen, ihre ganze Art würde zum Himmel schauen und auf Zeichen warten, die nicht erscheinen.“ Menschen, die noch nie einen Ton von The Fall gehört haben, werden in den zahlreichen Nachrufen auf die Verehrung der verstobenen Koryphäe für diese Band gestoßen. Die 24 Peel-Sessions, die The Fall für ihren unermüdlichen Medien-Champion eingespielt haben, erscheinen noch im Todesjahr gesammelt auf 6 CDs. Keine Leichenfledderei, sondern würdiger Ausdruck für Peels Hochachtung vor dem Output dieser Band. Ein großartiger Querschnitt durch das Werk der Band, die Peel treffend als „they are always different, always the same“ beschrieb. 85 Songs aus allen Phasen von The Fall. Ein reichhaltiger Streifzug durch die von Mark E. Smiths Visionen zusammengehaltenen stilistischen Exkurse der Band, die sie über zahllose Paradigmenwechsel des Pop hindurch relevant bleiben ließen. Von Punk und Post-Punk über Indie-Pop (bei dem man im Zusammenhang mit The Fall eigentlich nur von Independent Pop reden darf), von Lo-Fi-Übungen bis zu ausproduzierten hochmelodiösen Glanzstücken, von Krautrock bis Madchester. Von elektronischer Musik bis zu DJ/Dance-Culture. Der Fall-Sound spiegelt all das wider und bleibt doch immer eigen, unverkennbar The Fall. Eine stimmige Kurzfassung der Geschichte der Band liefert Musikjournalist Daryl Easlea in den Liner Notes zum höchst empfehlenswerten The Fall Box Set 1976–2007: Das spinnennetzartige Schreiben ihrer Country & Northern-Phase (1976 bis 1983), der High-Gothic-Pop ihrer Periode als Hitlieferanten aus dem Schatten (84 bis 89), die von Maschinen angetriebene Erhabenheit ihrer Musik, als sie einige Jahre lang abgedrehte Technokraten waren (90 bis 97), und die Seltsamkeit ihrer sich ständig verschiebenden Gegenwart seit 1998.
I’m a 50 year old man – what you gonna do about it?
Abermals auf Tour in Amerika verließen Smith und Poulou 2006 die Musiker, was aus dem halbfertigen Reformation Post-TLC-Album eine merkwürdige Mischkulanz werden ließ. „Finished it with the Americans“, ließ Smith wissen, bevor er mit neuer Band-Aufstellung an Imperial Wax Solvent zu arbeiten beginnt. Programm: „More smack in the face“. Nach dem herrlichen Sidestep Von Südenfed (mit dem Song German Fear of Österreich), das Smith in der Zusammenarbeit mit Mouse on Mars in Höchstform zeigt, ist das 27. Studio-Album von The Fall ein weiteres Highlight ihrer Geschichte. Es hat all die musikalischen Facetten, die sie so großartig machen in einer neuen Logik. Mutierten (Elektro-)Rockabilly, upgedateten Sixties-Punk, ungeniert-genialische Weirdness im Experimentieren mit Rhythmen und Sounds, die trotzdem grooven wie die Hölle. Eine Verbeugung vor den verehrten Can (Can Can Summer) und mehr. Dazu Mark E. Smith on top, der uns vom Wolf Kidult Man oder vom Exploding Chimney erzählt. Und dass der Mann einiges zu erzählen hat, weiß man mittlerweile. In Renegade gibt der mit einer hohen Alkohol- und Drogentoleranz gesegnete Smith unter anderem preis, dass er beim Aufpassen auf seine Schwestern das „Spiel“ Japanese Prison Camp einführte. Oder während finanzieller Durststrecken sein Geld mit dem Legen von Tarot-Karten für Freunde und Nachbarn verdiente.
Derzeit arbeitet Smith bereits an einem neuen The Fall-Album. Bei dieser Konsequenz kann man sich gut vorstellen, dass Mark E. Smith 2017 als immer noch bissig-unberechenbarer Vorstand der hundertsten Besetzung von The Fall „I’m a 60 year old man – what you gonna do about it?“ von einer Bühne knurren wird. Nur – Mark E. Smith und The Fall wiederholen sich nicht.