„In der Grundschule habe ich häufig gefehlt“, erzählt Hüseyin Tütüncü, der umtriebig-vitale und gastfreundliche Patron des türkischen Restaurants Kent am Brunnenmarkt, im 16. Wiener Gemeindebezirk, „ich bin als eines von 14 Kindern einer einfachen Bauernfamilie geboren, und bei der Garten- und Feldarbeit war jede Arbeitskraft gefragt. Besonders die Maisernte forderte großen Einsatz, da die Mutter aus dem gewonnenen Maismehl jahraus, jahrein unser Brot gebacken hat. Manchmal war es so hart, dass wir aufgerissene Mundwinkel bekommen haben.“
Brot. Brot? Liegt nicht auch darin das Erfolgsrezept für das Lokal Kent? Zu jedem Gericht wird ein großer Korb frisches Weißbrot in die Mitte des Tisches gestellt. Das Brot kostet nichts, aber verführt, gerade so wie es die Esskultur in einer sogenannten Lokanta in Trabzon vorsieht. „Gastfreundschaft am Schwarzen Meer existiert nicht nur im privaten Umfeld, sondern ist auch an öffentlichen Gaststätten zu spüren“, bestätigen die Söhne Mesut und René, „die Menschen kommen sehr wohl zum Essen, aber eigentlich geht es um das Zusammensitzen, Reden, Kartenspielen und Teetrinken. Österreichische Gäste in das Ambiente und die Stimmung einer gut besuchten Lokanta einzuladen und ihnen die türkische Gastfreundschaft nahe zu bringen – darin liegt die Vision, die unser Vater in sich trägt.“ Ein Stück Heimat schaffen und nach außen öffnen. Das Gefühl der Fremdheit und die Berührungsängste durch den kulinarischen Rahmen abschwächen, dem Mensch Raum geben und eine ungezwungene Verbindung ermöglichen. Kein Gast soll das Lokal ohne Lachen verlassen.
Der Bub ist älter geworden und hat sich an die harte Arbeit im elterlichen Haus gewöhnt. Allsommerlich treibt er mit dem Vater, dem älteren Bruder und sechs Hirtenhunden die Schafherde auf eine Hochebene in Anatolien. Drei Tage harter Marsch, um dann in einer einfachen Steinhütte als Hüterbub zurückzubleiben. Einsam ist es, manchmal unheimlich, aber mit unermesslich viel Zeit zum Nachdenken und Tagträumen.
Der Weg zu den Weideflächen führt in hohem Anstieg über die tiefgrünen Hänge, die saftig-frischen Almen und Steinlandschaften des Pontischen Gebirges, das Gipfel mit über 3.000 Metern einschließt. Ein Geruch wie in den Alpen. Und allgegenwärtig der Blick auf das Südufer des Schwarzen Meeres, an dem die Provinz Trabzon und die gleichnamige Hafenstadt liegen. Ein über den Landweg schwer zugänglicher Flecken Erde, zwischen dunklem Meer und schneebedecktem Hochgebirge. Haselnusswälder, Tabakfelder und Teeplantagen, soweit das Auge reicht, begünstigt durch das tropisch anmutende Klima.Hinter dem modernen Trabzon verbirgt sich das antike Trapezunt, ursprünglich von griechischen Siedlern aus Kleinasien gegründet. Zu den Griechen gesellte sich ein Mosaik aus Byzantinern, Venezianern, Osmanen und Kaukasiern, die eine blühende Handelsstadt etablierten, die über Jahrhunderte von ihrer perfekten Lage am Handelsweg in den Mittelmeerraum und nach Russland profitierte. Ein Kulturraum, dessen Bewohner sich immer arrangieren mussten, mit Neuankömmlingen, Besuchern und Eroberern. „Die Identität des Schwarzen Meeres“, schreibt Neal Ascherson, „fügt sich aus Gegebenheiten zusammen, die Fische und Wasser, Winde und Gräser, Klippen und Wälder, ziehende Vögel und wandernde Menschen einschließen.“ „Heutzutage wandert niemand mehr in Trabzon ein“, erklärt Hüseyin, „vielmehr gehen alle weg und nehmen die Angst vor dem Fremden in Kauf.“ Hüseyin sitzt im schattigen Gastgarten seines Lokals, ein selbstbewusster Endvierziger, der stolz auf seinen Erfolg und seine Integriertheit in Wien ist. Wer ihn am Mobiltelefon anruft, wählt dennoch mehrmals die 61, Kfz-Kennzahl von Trabzon. Heimweh? Früher ja, aber nun verhält es sich geradezu umgekehrt. Kaum in der Türkei, zieht es Hüseyin schon wieder nach Wien, hat doch ein großer Teil der Familie im Laufe der Jahre die Schwarzmeerküste in Richtung Österreich verlassen.
„Mein einst bescheidenes Leben vergesse ich nicht“, im offenen Gesicht von Hüseyin blitzt Rührung auf, „ich bin ein einfacher Mann geblieben.“ Gepaart mit Schläue, Kommunikationstalent, Herz und Fleiß ist es dem Selfmade-Mann gelungen, ein eigenes Unternehmen auf die Beine zu stellen – ein Traum, den er schon als ganz junger Schafhirte auf anatolischen Weiden hegte. Im gastronomischen Betrieb, der drei Standorte umfasst, sind die meisten Mitglieder der vielköpfigen Familie geschickt eingebunden, stehen aber unbestritten unter Hüseyins Kontrolle. Durch den starken Familienstrang ist eine Vertrauensbasis gegeben, die den Workflow in den Lokalen unterstützt. Die traditionelle Stellung von Hüseyin als Patriarch und Oberhaupt der Familie bleibt dabei unangefochten. Er selbst sieht im Kent seine Heimat.
Der Bub bewirbt sich im August 1973 in einer großen österreichischen Firma als Löter. Der Vater, der sich, seit einigen Jahren schon, in Wien als Sägearbeiter verdingt, hat die zwei Söhne aus der Türkei nachkommen lassen. Die Frauen bleiben in Trabzon zurück. Es ist sengend heiß. Der schmächtige 14-Jährige zieht sich einen dicken Wollpullover unter dem großen Mantel an, um kräftiger zu wirken. Er schafft damit bleibenden Eindruck und sieht schweißgebadet, aber höchst zufrieden, seinem ersten Arbeitsverhältnis in der Fremde entgegen. Die ältere Firmenkollegin nimmt ihn liebevoll-mütterlich unter ihre Fittiche, lehrt ihn Deutsch und teilt mit ihm das Frühstücksbrot.
Hanim und Nermin, Hüseyins Schwestern, beide mit Kopftuch bekleidet, sitzen am traditionell türkisch gedeckten Frühstückstisch im Gastgarten des Kent. Die Sonnenstrahlen brechen auf einer schweren Eisenpfanne voll duftender Omelettes, Paprika und Zwiebel, Schafkäse und schwarzen Oliven – Gurken und Tomaten gehören ebenfalls zu den Zutaten. Natürlich darf auch der cay, ein resches Weißbrot und der Teller mit dem Honigsee und einer Scheibe Butter obendrauf nicht fehlen. „Das Omelett muss unbedingt direkt aus der Pfanne und mit Hilfe eines Stückchens Brot gegessen werden“, da sind sich die Schwestern einig. Sie sind die Küchenmeisterinnen des Kent und kochen authentische Hausmannskost, gerade so wie sie es von ihrer bäuerlichen Mutter gelernt haben. Durchwegs schnörkellos, mit wenig Gewürzen, aber ausnahmslos frischen Zutaten. Den Knoblauch schälen sie selbst.
Und welchen Geschmack der Kindheit liefert, ganz spontan, die Erinnerung? „Hamsi“, geradezu fröhliche Blicke werden ausgetauscht, „das sind die kleinen Sardellen aus dem Schwarzen Meer, unser aller Leidenschaft!“ Hamsi haben ihren Lebensraum in einem kalten Gewässer und unterscheiden sich dadurch im Geschmack von den Mittelmeersardellen. Im Zuge eines Jahres wandern die Fischschwärme rund um das Schwarze Meer und erreichen Trabzon im Winter. Fangen, konservieren, verarbeiten, essen. Wie sagt doch der Trabzoner: „Wenn man keine hamsi isst, arbeitet der Kopf nicht.“ Dazu die Sardellen sorgfältig putzen, in Maismehl wälzen, nebeneinander in eine Pfanne schlichten, ein wenig Öl dazu gießen, anbraten und vorsichtig wenden. „Es soll eine Art Fladen entstehen“, erklärt Hanim, „das schmeckt köstlich!“
Der Bub ist ein in Wien ansässiger junger Mann geworden, der überraschend nach Trabzon reist, um mit einem ihm unbekannten Mädchen verheiratet zu werden. Am Vorabend der schnelle Weg in einen Laden, um Anzug und Schuhe zu kaufen. Am Tag der Hochzeit wartet der junge Mann auf einem hölzernen Stuhl im Haus der Eltern. 150 Menschen sind losgezogen, um die geschmückte Braut aus dem Bergdorf zu holen. Das Fest wird mit großem Aufgebot, mit Tanz und Musik, gefeiert. Männer und Frauen bleiben getrennt. So auch die Eheleute, die sich nur flüchtig in die Augen blicken können.
Hüseyin geht alleine zurück nach Österreich, arbeitet beständig und zielstrebig, steigt in der Firma zum Abteilungsleiter auf. Die Ehefrau lebt im Familienverband in Trabzon, schenkt einem Sohn und drei Töchtern das Leben. Und wartet. Doch ihr kommen andere Frauen mit Feuer im Herzen in die Quere. Eine Österreicherin, eine Polin. Ein anderer Sohn und eine andere Tochter.
Vor kurzem hat Hüseyin ein zweites Mal geheiratet, Melahat, eine junge hübsche Türkin aus Wien. „Trabzon und das Schwarze Meer habe ich selbst erst kennen lernen müssen“, lacht Melahat, „und wir sind in die Berge gegangen zu Hüseyins Schwester Aynur, der Schafhirtin. Dort habe ich den besten Reispudding auf Erden gegessen, und nicht nur eine Portion. Er ist aus Milch gemacht, die einzigartig nach Berg und Meer schmeckt. Nun weiß ich, warum mein Mann sütlac von Hüseyin Pasa auf der Speisekarte anbietet.“
Mit dem Kent hat Hüseyin 1990 begonnen. Wer bei dem Namen an Zigaretten oder gar an einen englischen Grafen denkt, liegt falsch. Kent bedeutet auf Türkisch Stadt, so einfach ist das. Zuerst ein kleines Café, das durch harten Einsatz kontinuierlich vergrößert und zu einem Restaurant ausgebaut wird. Auch der schattig-kühle Innenhof mit seinen belassenen Ziegelwänden wächst im Lauf der Jahre Stück um Stück und zieht ein bunt gemischtes Publikum von unterschiedlicher Nationalität und gesellschaftlicher Zugehörigkeit an. Bauarbeiter und Angestellte sitzen neben Künstlern und Studenten. Auch die türkische Community, die hauptsächlich zum Spielen, Teetrinken und Rauchen kommt, hat ihren angestammten Platz und Zufluchtsort. Das Miteinander funktioniert sehr gut, das gastfreundliche Ambiente und der freundliche Service tragen das ihre dazu bei. Die Preise sind moderat, die Portionen groß, das Essen solide. Stimmig die Lage am südländisch-orientalisch anmutenden Brunnenmarkt, dem längsten Straßenmarkt Europas. Das Kent öffnet um sechs Uhr früh und lädt zu einem türkisch-österreichischen Frühstück, auch die Marktstandbetreiber können so einen ersten, wärmenden cay zu sich nehmen.
Hüseyin verwendet gerne und häufig das Wort Garten, wohl eine Metapher seines Lebens. Ist er doch mitten in einem Garten, hinter dem elterlichen Haus in Trabzon, auf die Welt gekommen. Den „Garten Kent“, in den er seine ganze Leidenschaft gesteckt hat, will er bald an seine Söhne übergeben. Er spricht von dem Zwang zu harter Arbeit, gepaart mit einer Großzügigkeit des Herzens, der Weg zur Bildung wird dabei nicht angedacht.
Privat wohnen Hüseyin und seine Frau im Grünen – ländliche Stimmung mit einer Andeutung von Hügeln und Wald. Einmal im Monat findet sich hier die gesamte Familie zum mittlerweile multikulturellen Grillen zusammen. Die Gesellschaft zählt an die 30 Personen. Hacikiz, die erste Ehefrau, miteingerechnet. Optisch eine Mischung aus traditionellem und westlich-orientiertem Gepräge, ist die Rollenverteilung dennoch klar geregelt. Männer und Frauen sitzen an getrennten Tischen, am Frauentisch wird viel gelacht, die Söhne grillen, die älteste Tochter serviert. Die Regie obliegt Hüseyin, dem Ehemann, Vater, Großvater und „kleinen Bruder“.
Aber erst mit dem Blick hinter das Haus tut sich das Refugium auf, ein liebevoll angelegter Küchengarten am Waldesrand. Da wachsen Tomaten, grüne Bohnen und Kürbisse aus Trabzon, eine kleine Haselnussstaude vom Schwarzen Meer und ein Quadrat Maisfeld. Warum nicht hier, in einer lauen Sommernacht, inmitten der Maispflanzen unterm Sternenhimmel schlafen. Und das Leben einfangen.