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Ich sortiere mein Publikum aus

Ein 24-jähriger Vorarlberger hat eine der aktuell spannendsten Platten zwischen Bodensee und Burgenland produziert. Ein Gespräch mit der Person hinter Kenji Araki.

Foto: David Prokop

Eigentlich hätte Kenji Araki seit zehn Minuten ein Interview geben sollen. Eigentlich. Denn der Producer ist spät dran. „Sorry für die Verspätung, aber ich bin noch im Uber“, ruft mich der in Salzburg lebende Vorarlberger an. Eine Viertelstunde später steigt er mit einem blauen Müllsack aus dem Auto „Ich hab für einen Videodreh eingekauft, alles Secondhand!“, grinst er. „Gib dir mal diese Boots, die könnten auch von Ye kommen – zwei Euro haben die gekostet!“ Kenji Araki heißt eigentlich Julian Bertschler und steht auf Mode. Dass er trotzdem nicht mit der Schere am Stoff, sondern am Computer mit Beats hantiert, hat mit seiner Liebe zur Musik zu tun. Schließlich produziert der Mann Stücke, für die sich manche Ritalin verschreiben ließen. Sein Album „Leidenzwang“ ist auf dem Wiener Label Affine Records erschienen. Es marschiert in viele Richtungen der elektronischen Musik, zitiert aus ihrem Kanon und schwebt doch in seiner eigenen Umlaufbahn. Manche hören darin bereits die hochglanzpolierte Visitenkarte für eine nachhaltige Karriere in der Szene. FAQ Magazine hat Kenji zum Gespräch getroffen.

Endlich mal jemand, der die Zukunft vertont!
Wow! Das will ich über diese Platte hören!

Zu verschenken hast du auch nichts. Schon gar keine Zeit.
Ich bin supergroßer Fan von explosiven Intros. Deshalb fängt die Platte so unvermittelt an. Das hab ich mir ein bisschen bei Kanye Wests „Yeezus“ abgeschaut. Der steigt auch direkt und ohne langsame Einleitung ein – bäm!

Die Platte schreit einen an!
Ja, sie soll einen anschreien! Ansonsten überlegen die Leute rum, ob es ihnen gefällt oder nicht. Setzt man auf Unmittelbarkeit, haben sie gar keine Chance, sich Gedanken darüber zu machen.

Das ist kompromisslos.
Ich hab während des Albumprozesses viel mit dem Prinzip von rhythmischen Verarschungen gespielt. Das heißt: Man soll nie einer einzelnen Taktart folgen. Zumindest nicht länger als für ein paar Sekunden. Ich gebe eher Richtungen vor, in die es geht, bevor sie sich wieder ändern. Manchmal wird es schneller, manchmal leiser – das Intro sollte den Gedanken dieser Essenz repräsentieren. Gleichzeitig ist es wie eine Reise durch die Geschichte elektronischer Musik. Einzelne Elemente wie Breakbeats erinnern an die Neunziger, allerdings ohne sie einfach aus dieser Zeit herauszukopieren. Ich wollte sie in ein neues Kleid stecken. Das klingt durchaus kompromisslos, ja! Deshalb kann ich mir auch vorstellen, dass viele Leute direkt wegklicken.

Du bist dir also bewusst, dass du dein Publikum nach fünf Sekunden Zukunft verlierst.
Na ja, nicht alle! Auf diese Weise sortiere ich mein Publikum aber vorab und mit dem ersten Track aus!

Nicht alle sind für den Leidenzwang gemacht!
Dasselbe gilt übrigens auch für meine Live-Shows. Letztes Jahr habe ich in Linz bei der Veranstaltungsreihe Holy Hydra gespielt. Da sind nach dem ersten Track direkt zehn Leute rausgegangen. Dafür sind zehn andere reingekommen, weil sie den Sound interessant fanden.

Foto: David Prokop

Du hast das in einem Interview mit Haute Couture verglichen. Die kann auch nicht jede:r tragen.
Sie ist auch nicht für jeden gemacht! Ich spiele ja mit gewissen Erwartungen, die bei manchen sicher enttäuscht werden. Das passiert allein schon deswegen, weil ich verschiedene Genre-Tropen angreife, aber losbreche, um sie in gezielten Momenten durchzuziehen und das Publikum zu überraschen. Das ist nicht nahbar, wirkt aber umso stärker!

Das klingt, als hättest du in deinem Leben viel beobachtet, vor allem die Reaktionen von Menschen.
Dabei bin ich erst 24! Nein, im Ernst. Ich versuche zu irritieren, mische diese Momente der Irritation trotzdem mit musikalischen, an denen man sich zumindest zeitweise festhalten kann. Man assoziiert mich zwar mit der Experimental- und Noise-Szene. Im Vergleich zu vielen, die sich darin bewegen, wende ich mich aber stärker der Popmusik zu.

Die meisten geben nur nicht zu, dass sie auf die Musik von Billie Eilish stehen.
Ich bin ein Riesen-Fan von Popmusik und produziere viel in die Richtung – nicht, weil mich jemand dazu zwingt, sondern weil ich es gern mache. Ich kann auch da den Bezug zur Mode herstellen. Auf der einen Seite präsentiere ich Mainline-Haute Couture, das sind die Projekte von Kenji Araki. Auf der anderen produziere ich Kleidung für den Alltag. Der Punkt ist: Ich verwende dafür alle Utensilien und Tools, die ich durch das Kenji-Projekt kennenlerne. Die Haute Couture spiegelt sich teilweise in den zugänglicheren Sachen, es entsteht eine Wechselwirkung!

Apropos Wechselwirkung. Du kommst aus Vorarlberg, oder?
Ich wohne aktuell zwar in Salzburg und studiere Multimedia Art bei Martin Löcker. Ursprünglich komme ich aber aus Feldkirch und bin dort aufgewachsen.

Die Monftfortstadt! Nicht gerade bekannt für ihre elektronische Musikszene.
Weil es keine gibt. Einmal im Monat findet eine Drum’n’Bass-Party statt, bei der drittklassiger Drum’n’Bass von einem viertklassigen DJ aufgelegt wird. Das war’s! Allein deshalb war meine Musikszene immer das Internet. Vielleicht erklärt das auch meinen Stil. Ich war schließlich nie Teil einer lokalen Szene, bis ich nach Salzburg gezogen bin. Zu diesem Zeitpunkt habe ich aber schon etliche Jahre Musik produziert – allein im Keller.

Du konntest also gar nicht Teil einer Szene sein. Es gab keine.
Das „skug Magazin“ hat in einer Rezension zu meiner Platte geschrieben: Es ist Musik, die Modeselektor in 15 Jahren als hotten Shit kuratieren werden.

Dabei gehört deine Musik eigentlich in den Film.
Das macht total Sinn, weil ich auch Filmmusik produziere, zuletzt für einen 90-minütigen Horrorstreifen. Vor zwei Monaten habe ich außerdem an einem Psycho-Thriller gearbeitet, mehr darf ich an der Stelle aber noch nicht verraten. Jedenfalls erklärt das meinen cineastischen Zugang zur Musik. Vor dem inneren Auge sollen Landschaften entstehen, die filmische Szenen abbilden.

Deine Titel zu den Stücken evozieren auch Bilder. „Gel und Gewalt“ zum Beispiel. Was sagt uns das?
Was sagt dir das?

Gel in die Haare, Gewalt vor der Tür?
Ha! Für mich sagen die Titel immer etwas Spezifisches aus. Ich mag aber gar nichts vorwegnehmen. Man soll hören und sich etwas vorstellen. Schließlich ist es das, was mich an instrumentaler elektronischer Musik fasziniert: Sie zwingt dir keine Story auf. Du kannst deine eigenen Erfahrungen und Erlebnisse einfließen lassen, weil keine lyrische Story im Vordergrund steht, die sofort konkrete Bilder voraussetzt. Deshalb bedeutet „Gel und Gewalt“ für jeden etwas Anderes.

Was bedeutet es für dich?
Im Titel schwingt ein sexueller Unterton mit. Mehr will ich aber nicht dazu sagen.

Lesen Sie das vollständige Interview in der Printausgabe des FAQ 66

Kenji Araki
Leidenzwang
(Affine Records)

 

| FAQ 66 | | Text: Christoph Benkeser
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