Eine Aufzugfahrt in die tiefsten Ebenen des Unbewussten, unterster Halt eine Hotelsuite, Stille, ein Klirren, die visuelle Erscheinung einer eigentlich toten Frau – die in einer flüssigen Bewegung ihren Kopf dreht, auf einmal scharf herüber blickt, ihr Gegenüber fixiert und nicht mehr loslässt. „Non, je ne regrette rien“, tönt es in Inception (2010, R: Christopher Nolan), wenn die Traumreisenden mittels eines „Kicks“ zurückgeholt werden, zurück aus den weiten Welten des Intuitiven und Verdrängten, zu denen auch diese Frau gehört. Als klar war, dass es Marion Cotillard sein würde, die Cobbs (Leo DiCaprio) Frau Mal spielen wird, wäre dieses Stück Musikgeschichte beinahe aus dem Skript entfernt worden, glaubt man Hans Zimmer (nachzulesen online im „Los Angeles Times Music Blog“) – schließlich war Marion Cotillards Biografie da schon untrennbar mit jener dessen Urheberin Édith Piaf verschmolzen. Drei Jahre zuvor nämlich bedeutete La Vie en rose (R: Olivier Dahan) für die Französin einen vom ersten nicht-englischsprachigen Best-Actress-Oscar seit Sophia Loren gekrönten Preisregen und den absoluten Durchbruch. Hatte sie ab der Jahrtausendwende erste Bekanntheit durch die Teile eins bis drei der von Luc Besson geschriebenen Taxi-Reihe erlangt, 2003 ihren ersten englischsprachigen Auftritt in Tim Burtons Big Fish und im Jahr darauf ihren ersten César für ihr Spiel in Un long dimanche de fiançailles (R: Jean-Pierre Jeunet) erhalten, bewies sie mit ihrer Darstellung der am Ende ihres Lebens schwer gezeichneten Stimme Frankreichs endgültig, wie sehr ihr das Besondere liegt. Fortan lieferte sie zahlreiche Belege, dass ihrer Wandelbarkeit keine Grenzen gesetzt sind – außer vielleicht ihre eigenen Ängste, wie sie in früheren Interviews, aber auch im nachfolgenden erzählt. Wenngleich sie im Lauf der Jahre in so unterschiedlichen Rollen wie als Spionin der Résistance im Zweiten Weltkrieg (Allied, 2016, R: Robert Zemeckis), Lady Macbeth (Macbeth, 2015, R: Justin Kurzel) oder unter Depressionen leidende Angestellte im Sozialdrama Deux jours, une nuit (2013) der Dardenne-Brüder im Kino zu sehen war, ist die Filmkunst längst nicht ihre einzige Beschäftigung: So fand sie Zeit für zahlreiche Werbefilme für Dior (darunter Lady Blue Shanghai von David Lynch), zig Theaterbühnen in der Rolle der Jeanne d’Arc sowie musikalische Kollaborationen.
Musikalisch wird auch ihre nächste Rolle: Im mit Spannung erwarteten Filmmusical Annette von Leos Carax und Sparks, das im Juli das Rennen um die Goldene Palme in Cannes eröffnet hat und eines der Kino-Highlights des Jahres zu werden verspricht, spielt und singt sie an der Seite Adam Drivers, der ihren Ehemann, einen Stand-up-Comedian, verkörpert; die zweijährige Tochter der beiden zeigt bald eine höchst ungewöhnliche Gabe. Nicht nur den Score, sondern auch das Drehbuch schrieben Ron und Russell Mael, besser bekannt als das kultige Duo Sparks – denen übrigens Baby Driver-Regisseur Edgar Wright mit The Sparks Brothers ein dokumentarfilmisches Denkmal gesetzt hat, das seit dem 18. Juni in den USA und hoffentlich bald auch bei uns im Kino zu sehen ist.
Auch über Annette spricht Marion Cotilard, selbst Mutter zweier Kinder, die sie öffentlichkeits-unwirksam mit Kinds-vater, Ehemann und Branchenkollege Guillaume Canet großzieht, im Interview mit Jenny Davis. Außerdem beschreibt sie ihre spezielle Verbindung zu Édith Piaf, seziert die Psycho-logie von Schauspielerei, reflektiert einige Stationen ihrer Karriere und erzählt von ihrem Treffen mit David Bowie.
Sprechen wir zunächst über Ihren neuesten Film, „Annette“. Wie kamen Sie zu dem Projekt?
Ich traf mich vor zwei Jahren mit Leos Carax wegen dieses Projekts, aber da sagte ich ihm, dass ich nicht verfügbar sei. Ich war noch mit meinem zweiten Kind schwanger. Dann rief mich eines Tages ein Produzent an und sagte mir, dass Leos noch immer jemanden sucht. Ich mochte das Drehbuch, fand die Geschichte wirklich einzigartig und tiefsinnig. Sie ist sehr poetisch und sehr verrückt. Es ist eine Musical-Comedy und ich singe gerne. Und Adam Driver ist ein außergewöhnlicher Schauspieler. Trotzdem habe ich nicht sofort zugesagt, denn meine Figur ist Opernsängerin und ich selbst bin nun wirklich keine Opernsängerin. Dadurch, dass ich stark infrage gestellt habe, ob ich dieser Herausforderung gewachsen sein würde, zögerte ich noch ein bisschen.
Aber Sie scheinen wie jemand, den so eine Herausforderung antreibt?
Ja, ich habe eine Vorliebe für Herausforderungen, doch ich war in diesem Fall einfach nicht sicher, ob ich es in mir habe. Wenn ich zurückblicke und manche meiner Entscheidungen
betrachte, ist es auch so, dass ich einige Rollen abgelehnt habe, weil ich das Gefühl hatte, sie wären nicht herausfordernd genug. Es stimmt also, eigentlich nehme ich solche Herausforderungen immer gerne an.
Sie haben auch einmal gesagt, ihr größtes Problem sei Angst. Angesichts ihrer Filmografie ist das schwer zu glauben.
Naja, ich bin nicht sicher, ob das eine negative Eigenschaft ist. Außerdem bin ich nicht sicher, ob diese Angst noch Teil von mir ist, weil ich das vor einigen Jahren gesagt haben muss. Ich arbeite daran, ich stelle mich meinen Ängsten, weil ich realisiert habe, dass das immer schon geklappt hat. Viele frühere Ängste sind verschwunden. Heute bin ich also weniger ängstlich – Lampenfieber bekomme ich aber immer noch. Und auch eine Portion Zweifel, was aber auch kein Handicap per se ist. Das wird auch immer da sein. Angst brauche ich nicht, aber das Lampenfieber gehört zu meinem Arbeitsprozess einfach dazu. Ich denke, vielleicht brauche ich das sogar, um vorwärts zu kommen.
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