„Nichts muss Sinn machen, man kann die Dinge einfach zusammenwerfen, weil sie gut zusammen aussehen“, schreibt Cindy Sherman 2004 im Zuge ihrer fotografischen Clowns-Serie – und fasst ihr Lebenswerk zusammen: die Suche nach Veränderung, die Inszenierung von Körpern, das Experiment mit Identitäten. Sie prägen das Werk der US-amerikanischen Fotografin, die als Verkleidungskünstlerin und Sprengmeisterin von Rollenzuschreibungen bekannt geworden ist. Mit inszenierten Fotografien fiktiver Filmstars rüttelte sie in den achtziger Jahren die Kunstwelt auf. Inzwischen blickt Sherman auf unzählige Bilderserien zurück, bei denen sie sich selbst in den Mittelpunkt gestellt – und doch nie von ihr selbst erzählt hat.
Sherman beginnt während ihrer Studienzeit in den siebziger Jahren Fotos von sich selbst zu schießen. Darauf zeigt sie nicht nur sich selbst, sondern sie verkleidet sich. Sie geht die unterschiedlichen Typen durch, die sie an der Uni trifft, im Bus, im Fernsehen und in Filmen sieht. „Ich mochte den Hitchcock-Look, den Stil von Antonioni-Filmen, neorealistisches Zeug“, sagt Sherman. „Ich wollte keine starken Emotionen zeigen. Keine Verführung. Keine Angst. Was mich interessierte, war Ausdruckslosigkeit.“ Sherman baut ihr Zimmer zu einem Filmset um, schlüpft darin in neue Rollen – und verschiebt die normativen Grenzen bestehender Genderzuschreibungen.
Cindy Sherman, Untitled Film Still #93, 1981. Courtesy of the artist and Metro Pictures, New York
Eine Kontinuität, die sich durch Shermans ganzes Werk zieht, ist die Verkleidung. Sie verkörpert fiktive Personen, inszeniert sich als Hollywood-Diva der Fünfziger, als Model in Hochglanzmagazinen oder als verstörtes Mittelklasse-Opfer in einem Horrorfilm. Sie übernimmt Bilder von Frauen, die wir kennen. Oder aus den Massenmedien zu kennen glauben. Sherman eignet sich diese Bilder an und verschiebt sie durch ein experimentelles Spiel aus Maskerade und Karikatur. Wir bemerken, oft erst nach dem zweiten Blick, dass etwas nicht stimmt. Ein irritierender Moment setzt ein. Verwirrung, Ekel, Überraschung. All diese Zuschreibungen tangieren die Fotografien von Sherman und treffen sie doch nie ganz. Schließlich geht es häufig um etwas, das in den Bildern gar nicht zu sehen ist.
Befremdung durch Verfremdung
Sherman setzt auf Verfremdung. Sie verfremdet sich, um andere zu befremden. Teilweise entstehen durch diesen Drang zur ästhetischen Eskalation verstörende Bilder. In den späten Achtzigern setzte Sherman häufig nackte Körperteil-Prothesen in ihren Bilderserien ein. Neben Erbrochenem und verrottetem Fast Food platzierte sie zerstückelte Körper, gebrauchte Kondome und Blut. „Ich wollte mit diesen Bildern provozieren, aber es ging eher darum, Männer dazu zu bringen, ihre Annahmen zu überdenken, mit denen sie Bilder von Frauen betrachten“, sagte sie in einem Interview mit dem New Yorker. Als sie Anfang der neunziger Jahre in Rom lebt, rechnet Sherman in ihren „History Portraits“ mit ikonischen Bildnissen der patriarchalen Kunstgeschichte ab. 2004 fotografierte sie sich mit Clownkostümen und grellen Perücken. Bilder, die bunt sind und doch keine Freude ausstrahlen, sondern nur emotionale Taubheit – und einen Moment des Schocks in sich tragen …
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The Cindy Sherman Effect
Identität und Transformation in der zeitgenössischen Kunst
Kunstforum Wien,
29.Jänner 2020 – 21. Juni 2020