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Im Schnell durchlauf

Gemischte Gefühle anlässlich von Ridley Scotts Epos „Napoleon“ in seiner möglicherweise nicht vollständigen Fassung.

Jede/r von uns hat es vermutlich – und vorzugsweise als Kind – erlebt: dass der geliebte Großvater einen damit verblüffte, dass er eine besondere Fertigkeit sein Hobby nannte, sei es, eine detailgetreue Modelleisenbahn-Landschaft zu bauen, aus Streichhölzern ein Schiff zu basteln, ein Moped zu zerlegen und wieder zusammenzubauen, eine ansehnliche Kakteenzucht zu betreiben oder dergleichen mehr. Staunend und mit großen Augen stand man davor und konnte kaum glauben, was der eigene Opa da Tolles aus dem Hut zaubern konnte. Dass Sir Ridley Scott, den man angesichts seines fortgeschrittenen Alters von 86 Jahren getrost einen „Großvater“ des Kinos nennen darf, aus seinen Fertigkeiten nicht nur ein Hobby, sondern einen Beruf gemacht hat, dem er besonders in den letzten Jahren mit großem Eifer und großer Intensität nachgeht, ist bekannt. Und doch fühlt man sich angesichts seines neuen Films Napoleon, dem schon sehr bald ein weiterer folgen wird (Gladiator 2), ein wenig an diese Situation aus der Kindheit erinnert.

Denn das 158-minütige Epos, das rund 26 Jahre aus dem Leben des legendären französischen Offiziers und späteren Kaisers umfasst, ist, um mit dem Positiven zu beginnen, im allerbesten Sinne „Opas Kino“. Anfang der 1960er-Jahre war das ein Schimpfwort, mit dem junge, wilde Filmschaffende gegen den betulichen Nachkriegsfilm vor allem in Deutschland und in Frankreich wetterten. Heutzutage aber, dazu muss man gar nicht kulturpessimistisch sein, ist das eher ein Adelsprädikat. Das größte Vergnügen, das man an der Arbeit Ridley Scotts (oder Martin Scorseses, Clint Eastwoods, Werner Herzogs, Marco Bellocchios, um nur einige der noch aktiven Veteranen zu nennen) haben kann, ist die immer noch spürbare Begeisterung und die Liebe zum Medium, die – siehe Napoleon – dahinter steckt. Grundlage dafür ist ein eingespieltes Team aus Leuten, die immer wieder mit dem Regisseur gearbeitet haben, so etwa der Kameramann Dariusz Wolski, die Editorin Claire Simpson und die beiden am längsten mit Scott Verbundenen, Production Designer Arthur Max und Kostümdesignerin Janty Yates. Wer nach all den VFX-Orgien und Green-Screen-Spektakeln der letzten Jahre wieder einmal einen gediegenen, handwerklich perfekten Film sehen will, der ist bei Napoleon richtig. Hier sehen wir (großteils) reale Schauplätze, wenn auch nicht in Frankreich und Ägypten, sondern in Großbritannien, Marokko und Malta, hier sehen wir einen Detailreichtum und eine Ausstattung, die diesen Namen auch wirklich verdienen. Die Volksmassen im Revolutionstaumel und die riesigen Heere, die Scott für Napoleons Schlachten aufmarschieren lässt, sind (großteils) echt und keine digital hineingemorphten Schablonen. Produktionstechnische Entscheidungen, die sich gelohnt haben.

 

Kein Oscar

Warum das wichtig ist? Nicht, weil aktuelle Blockbuster per se schlecht sind oder weil man Good Old Hollywood, das bekanntlich schon lange tot ist, nachtrauern müsste, sondern weil es einfach Spaß macht, einen Film zu sehen, der ganz offensichtlich nicht im Husch-Pfusch-Verfahren gedreht wurde. Das wahre Übel an den jüngsten Kino-Krachern ist ja nicht deren Inhalt, sondern die teils hanebüchen schlechte und schlampige Umsetzung. Wie Ridley Scott ein solch gigantisches Projekt bei seinem vor allem in den letzten Jahren an den Tag gelegten Pensum stemmen kann, das vermag letztlich auch der sehr interessante Artikel (+ Interview) „Ridley Scott’s Napoleon Complex“ in der Zeitschrift „New Yorker“ nicht restlos zu klären. Jedenfalls schnitt er, während die Dreharbeiten zu Gladiator 2 wegen des Schauspieler-Streiks auf Eis gelegt waren, einen Director’s Cut von Napoleon, der viereinhalb Stunden dauern soll und später zusammen mit der nun vorliegenden Kinofassung oder statt dieser auf Apple TV+ gezeigt werden soll. (Apple TV+, wir erinnern uns, hat zuletzt auch Martin Scorseses historisches Epos Killers of the Flower Moon ermöglicht.) Damit nicht genug, hat er auch bereits die Storyboards für seinen übernächsten Film, einen Western, entworfen – gar nicht zu reden von den all den anderen Projekten, die ihm aktuell zugeschrieben werden. Der Western, so ließ Scott kürzlich verlauten, sei das einzige Genre, in dem er sich noch nicht versucht habe. Apropos „noch nicht“: Dass Scott in den 46 Jahren, die seit seinem ersten Film The Duelists vergangen sind, zwar viermal für den Oscar nominiert war (davon dreimal als Regisseur), ihn aber noch nie bekommen hat, ist ein schlechter Scherz der Filmgeschichte; noch dazu war er nicht für seine bahnbrechenden Science-Fiction-Filme Alien (1979) und Blade Runner (1982) nominiert, sondern für Thelma and Louise (1992), Gladiator (2000) und Black Hawk Down (2001). Ob es bei Napoleon klappen wird, steht noch in den Sternen.

Zeitmangel

Die Freude an dem Epos über den ikonischen Heerführer wird jedoch – das ist die Kehrseite der Medaille, wenn ein Streaming-Dienst als Hauptgeldgeber auftritt – getrübt durch die Tatsache, dass der Film, wie er jetzt vorliegt, mit zweieinhalb Stunden einfach zu kurz ist, um all das einzulösen, was Scott offenkundig vorschwebte. Nicht nur den Aufstieg des jungen und ehrgeizigen korsischen Offiziers wollte der Filmemacher abbilden, sondern auch die Wirren und Nachwehen der Französischen Revolution und die nicht gerade einfache Liebesbeziehung und Ehe zwischen Napoleon und der in der Übersee-Kolonie Martinique geborenen Josephine, der Witwe des im Zuge der Revolution hingerichteten Offiziers Alexandre de Beauharnais. Diese Beziehung war, das ist bekannt, für Napoleon sehr wichtig, wie eine stattliche Anzahl von Briefen an die geliebte Frau belegt, auch und besonders nach der Scheidung. Diese erfolgte im Jahr 1810 aus Gründen der „Staatsräson“ – Josephine, so hieß es, könne kein Kinder gebären, obwohl sie deren zwei aus erster Ehe hatte. Die eilig herbeizitierte Marie-Louise von Österreich, kaum 20 Jahre alt, gebar ihm dann einen Sohn, spielte aber ansonsten kaum eine Rolle. Die Szenen zwischen Josephine und Napoleon sind von hoher schauspielerischer Klasse, immerhin wird der Kaiser von keinem Geringeren als Joaquin Phoenix gespielt. Dieser kann hier zwar nicht so viele Facetten seines Könnens zeigen wie etwa in Joker, agiert aber mit sichtlicher Lust an der Sache. Vanessa Kirby, die die ursprünglich vorgesehene Jodie Comer (Killing Eve) ersetzte, tut das Ihre, um diese Beziehung zu einem zentralen Teil des Films zu machen, auch wenn die fragwürdigen Umstände nie wirklich hinterfragt werden – vielleicht auch deswegen, weil, siehe oben, die Zeit fehlt. Und überzeugende Frauenfiguren waren mit wenigen Ausnahmen (Ellen Ripley in Alien, Rachael in Blade Runner oder Thelma und Louise im gleichnamigen Film) noch nie die große Stärke des Ridley Scott.

Jedenfalls: Die Kinofassung von Scotts Napoleon gleicht einer gewaltigen Hetzjagd, quasi im schnellen Vorlauf. Los geht es 1789 kurz und bündig mit der Enthauptung von Marie-Antoinette, dann gibt es Zoff unter den Revolutionären, und so hechelt der Film atemlos von Station zu Station in Napoleons Karriere, immer wieder unterbrochen/gekrönt von seinen gelungenen (Austerlitz) und weniger gelungenen (Waterloo) Schlachten, wobei nie wirklich erklärt wird, was an seinen strategischen Entscheidungen so genial war …

Lesen Sie den vollständigen Artikel in der Printausgabe des FAQ 73

 

NAPOLEON
Historiendrama, USA/Großbritannien 2023 – Regie Ridley Scott Drehbuch David Scarpa
Kamera Dariusz Wolski Schnitt Claire Simpson, Sam Restivo Musik Martin Phipps Production Design Arthur Max Kostüm Janty Yates, David Crossman
Mit Joaquin Phoenix, Vanessa Kirby, Tahar Rahim, Rupert Everett, Mark Bonnar, Paul Rhys, Ben Miles, Riana Duce, Ludivine Sagnier, Edouard Philipponnat, Scott Handy
Verleih Sony Pictures, 158 Minuten
Kinostart bereits gestartet
Streaming Apple TV+, Termin noch unbekannt

 

| FAQ 73 | | Text: Andreas Ungerböck
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