Die Vorstellung, dass Fotografie ursprünglich mit schwarzer Box, Film, Dunkelkammer und Fixierbad zu tun hatte, scheint einer anderen Welt zu entstammen, obwohl dieses Verständnis des apparativ aufgezeichneten Bildes nur wenige Jahrzehnte zurückliegt. Doch längst sind wir im postmedialen Zeitalter angekommen, wie die Kulturwissenschaftlerin Rosalind Krauss Ende der 1990er Jahre konstatierte. Praktisch alle Verfahren der Bildaufzeichnung – wie im Übrigen auch des Films oder der Audioproduktion – sind heute durch digitale Produktionsweisen geprägt und auch von daher zu denken. Bereits ein einfaches Gedankenexperiment, basierend auf dem erfolglosen Versuch, sich einen Alltag ohne E-Mail vorzustellen, dürfte jenen heute fern wirkenden Epochenwechsel verdeutlichen, der, einstmals als „digitale Revolution“ apostrophiert, die Parameter unserer gesamten Wahrnehmung verschoben hat.
Seither unterliegt das fotografische Bild einer grundsätzlichen Neudefinition. Weil es ursprünglich gekoppelt war an den Prozess chemisch determinierter Speicherung des in einem definierbaren Augenblick auf den Film eingefallenen Lichts mit scheinbar unverrückbaren Aufnahmeergebnissen, wurde ihm das Potenzial zugeschrieben, Zeugenschaft über ein reales Ereignis abzugeben. Obwohl dieses Vertrauen in den Realitätsgehalt der Bilder keineswegs ganz unterminiert worden ist, kommt im Zeitalter standardisierter Bildbearbeitung und digitaler Postproduktion mittlerweile als zentrale Alltagserfahrung hinzu, dass das fotografische Bild stets auch Konstruktion ist. Was insbesondere für das digitale Bild als technisch veränderbares Medium gilt, manifestierte sich in Ansätzen bereits von Beginn an in der Verwendung von Licht, Perspektive und Kontrast, durch Hervorhebung spezieller visueller Schwerpunkte, Nachbearbeitung durch Retusche und nicht zuletzt die Erschaffung von Szenarien, welche – wie im Surrealismus – die Konventionen des Wirklichen überschritten. Wie auch immer diese Prozesse geartet waren, hatten sie dennoch das jeweils einzigartige, geplante, fixierte und authentische Bild als gemeinsames Ziel.
Die Materialität des fotografischen Bildes als visuelles Unikat wurde jedoch durch Verfahren digitaler Aufzeichnung abgelöst, was die theoretisch grenzenlose Möglichkeit zur Manipulation der gespeicherten Daten zur Folge hatte. Aus dieser Erfahrung heraus bewegte sich die Fotografie im Kontext der zeitgenössischen Kunst zunehmend in die Richtung einer medienreflexiven, kritischen Praxis der Repräsentation von Wirklichkeit, während sich die Fotografie im Alltag in flächendeckend verbreitetes Userverhalten transformierte. Dieser Prozess der Demokratisierung von Technologie ist durch die dynamisierte Verbreitung von Kompaktkameras und Smartphones mit Multi-Media-Ausstattung im Zuge der Globalisierung von Produktionsprozessen beschleunigt worden. Im Zuge dessen spielt auch die Instant-Verfügbarkeit des Bildes ohne Zwischenstufe kostspieliger Entwicklung eine Rolle.
Noch im Zeitalter der analogen Fotografie per Kleinbildkamera fasste Susan Sonntag die sich abzeichnende Tendenz durch die generelle Popularisierung der Fotografie in ihrem berühmten Essayband On Photography (1977) zusammen: In seinen Anfängen in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte das Fotografieren noch keine Funktion als gesellschaftlich verbreitete Tätigkeit. Weil sie schwerfälliger Spezialgeräte bedurfte, war sie zunächst Luxus einer kleinen elitären Schicht. Erst im Zuge avancierter Aneignung der neuen Technologie in der Phase der Industrialisierung folgt der Fotografie als Handwerk deren Selbstverständnis als Kunst. Im Zuge der sich ausweitenden allgemeinen Verfügbarkeit der Apparate wurde der Akt des Fotografierens als Massenkunst, so Susan Sonntag, in weiterer Folge schließlich zu einem gesellschaftlichen Ritual, im Zuge dessen die unmittelbare Erfahrung durch ein chronisch voyeuristisches Verhältnis zur Welt ersetzt wird, wobei der Akt der Aufnahme selbst den Charakter eines Ereignisses annimmt.
Ein bemerkenswertes Phänomen, das im Zeitalter unentwegt steigender Speicherkapazitäten und der Postproduktion am Heimcomputer seine Fortsetzung und Verdichtung erfährt. Nicht Internet oder PC, sondern die buchstäblich überall präsente symbiotische Mensch-Maschine aus der Verbindung mit Smart-Phone oder Tablet-PC wirkt wie eine Apotheose des Medienzeitalters. So, als würden die Objekte und Erlebnisse erst durch die Illusion ihres Festhaltens Sinnlichkeit gewinnen, werden sie pausenlos geknipst und so visuell gebannt. Es etablierte sich damit sowohl der inflationäre Gebrauch der Kamera, aber zugleich auch die permanente Möglichkeit der Dokumentation der Dramatik des Realen, verbunden mit alsbaldiger Verbreitung per Internet wie etwa im Zuge der Aufstände in den arabischen Staaten.
Zwei Jahrzehnte nach Susan Sonntag zeigte sich der französische Philosoph Jean Baudrillard von jenem seltsamen Zauber beeindruckt, der die Realität mit dem Zeichen ihres Verschwindens umhüllt, sie aber auch im Bild verbleiben lässt. Jedes fotografierte Objekt sei bloß eine Spur, die das Verschwinden des gesamten Restes hinterlassen hätte, schreibt Baudrillard in „Objects in this mirror“. Vielleicht erklärt sich aus dieser existentiellen Erfahrung des Entgleitens der Gegenwart, wie auch aus der Notwendigkeit, die Welt kritisch zu deuten und zu kommentieren, der omnipräsente Drang, das Gesehene unaufhörlich durch Abspeichern zu fixieren.
Genau hier haken aktuelle künstlerische Arbeiten ein, um mit einer Sicht von außen auf die Produktion digitaler Bilder als gesellschaftliches Verhalten zu blicken. Es sind Reflexionen über den Gebrauch des Mediums der Fotografie. In seinem aktuellen, in einem Nationalpark in Kanada gedrehten, Videofilm Panorama dokumentiert etwa der in Brooklyn lebende junge Künstler Colin Snapp den offenbar omnipräsenten Reflex zur permanenten fotografischen Aufzeichnung all der kleinen Höhepunkte und Belanglosigkeiten des Alltags. Im Wiener Odeon zur Live-Präsentation des neuen Tosca Releases im Breitwandformat projiziert, zeigte Snapps Video über die Dauer von mehr als zwei Stunden nahezu in Echtzeit massenweise Touristen, die sich – wie es überall zu beobachten ist – allesamt bemüßigt fühlten, einander mit den Kameras ihrer Smartphones vor dem Hintergrund der umliegenden Landschaft in fast identen Posen abzuknipsen.
Nur selten hingegen scheint die populäre Fotografie sich aufzumachen, um dem besonderen Motiv oder dem einzigartigen Ausdruck zu begegnen. Wo sie hingegen zum zeithistorischen Dokument wird, geraten Menschen oft ungewollt in prekäre Situationen, was der aus Beirut stammende Künstler Rabih Mouré in einer umfassenden Ausstellungssituation mit integriertem Videovortrag auf der vergangenen Documenta 13 eindrucksvoll zeigte. Er ging der Frage nach der Möglichkeit des unvorstellbar Grauenhaften nach und analysierte Bilder und Filme irgendwo liegen gebliebener und gefundener Handys syrischer Demonstranten, die damit aller Wahrscheinlichkeit nach ihre Todesschützen aufnahmen, bevor sie im Zuge der Auseinandersetzungen umkamen. Durch Untersuchungen bis in die Makrobereiche fragmentierender Pixel befragt Mouré die Bilder und macht sich auf die Suche nach den Gesichtern der Mörder der einstigen Handy-Besitzer. Ähnlich wie der Fotograf Thomas in Michelangelo Antonionis Film Blow Up, tastet er sich in Grenzbereiche vor, in denen fotografische Klarheit nur mit größter Anstrengung erreicht werden kann. Neben dem zentralen politisch-humanitären Aspekt geht es in der Annäherung von außen um die Frage, inwiefern die Fotografie Reste des authentisch Realen enthalten kann, während sie selbst nur Spuren der Wirklichkeit freigibt.
Eyes On macht Wien im November zur Fotohauptstadt
Von 30. Oktober bis 30. November stehen in ganz Wien 225 Fotoausstellungen und Veranstaltungen zum Thema Fotografie auf dem Programm. Museen und Ausstellunghäuser wie das Künstlerhaus, das Wien Museum, das Jüdische Museum oder das Naturhistorische Museum nehmen ebenso teil wie zahlreiche Galerien. Die Eröffnung findet am 29. Oktober im MUSA mit „distURBANces“, einer Gemeinschaftsausstellung des Europäischen Monats der Fotografie, statt.