„Töten ist wie Rauchen. Nur das erste Mal ist schwer.“ Das weiß auch Hae-jun (Park Hae-il), er hat es selbst einmal so formuliert. Dennoch will der erfahrene Kriminalkommissar einfach nicht glauben, dass Seo-rae (Tang Wei), die verführerisch schöne und undurchschaubare Witwe seines neuesten Mordopfers vielleicht tatsächlich so skrupellos ist, wie es der Vergleich vorsieht. Sie steht unter dem Verdacht, ihren übergriffigen Ehemann, der ihr sogar seine Initialen auf den Bauch tätowieren ließ, einen nahegelegen Berg hinuntergestoßen zu haben. Zwar gibt es ein Alibi, das wasserdicht zu sein scheint. Aber die Fakten, die die polizeilichen Ermittlungen ergeben, lassen immer deutlicher darauf schließen, dass ihre Vergangenheit düster genug ist, um ihr die Tat durchaus zuzutrauen.
Für Hae-jun kommt die Erkenntnis allerdings zu spät. Sie trifft ihn wie ein unsichtbarer Schlag ins Gesicht. Denn der kluge, sanftmütige Kriminalkommissar, dem sonst kein Fall zu schwierig ist, hat sich längst hoffnungslos in die rätselhafte junge Frau verliebt, seit sie zum ersten Mal im Verhörzimmer vor ihm saß und ihre geschickt verschlüsselten Antworten gab. Seitdem verbringt er seine Nächte vor Seo-raes Haus, um sie zu beobachten, zumal er aufgrund einer chronischen Schlafstörung sowieso nicht zur Ruhe kommt. Und auch seiner Frau, mit der er seit fast siebzehn Jahren glücklich verheiratet ist, merkt nichts davon, weil sie als Ingenieurin in einem Atomkraftwerk in Ipo arbeitet und er nur an den Wochenenden aus Busan zu ihr pendelt. So beginnt eine zarte Romanze zwischen dem Ermittler und der Verdächtigen, die voller Sehnsucht ist und voller Misstrauen, und die von all den Dingen handelt, die sie einander nicht zu sagen wagen.
So viel muss man vielleicht wissen, um über den neuen Film von Park Chan-wook reden zu können, ohne sich selbst allzu sehr aufs Glatteis zu bewegen. Aber mehr sollte man vorab nicht wissen, um den Reiz dieses faszinierenden, herrlich nuancierten und cleveren Täuschungsmanövers vollends auszukosten, dass sich nach und nach behutsam auf der Leinwand entfaltet. Wichtig ist noch, dass der koreanische Meisterregisseur, der einst durch seine extrem gewalttätigen und extrem stilisierten Filme zu einem Kultregisseur des internationalen Autorenkinos wurde, hier erneut sinnlicher und spielerischer vorgeht als in seinen früheren Werken, um seiner als Film noir anmutenden, labyrinthischen Meditation über Liebe und Verlust Ausdruck zu verleihen. Und dass er damit dem Kino ein großes Geschenk gemacht hat.
Ähnlich wie Hae-jun sich gleich zu Beginn des Films mühsam und noch mit seinem Assistenten im Schlepptau auf den Berg hinaufhievt, von dem Seo-raes Mann wenige Stunden zuvor in den Tod gestürzt ist, bewegt sich auch Park Chan-wook in Decision to Leave auf dem schwindelerregenden Höhepunkt seiner Kräfte. Sein Held ist, entgegen der üblichen Genreformationen, ein Polizist, wie er im Buche steht, mit Werten und Prinzipien und einem sicheren Auge fürs Detail, das ihn einst zum jüngsten Chefinspektor der Abteilung gemacht hat. Die Tatsache, dass ihm kein Gipfel zu hoch ist, um die Ermittlungen aufzunehmen, zeige jedoch nicht nur seinen Stolz, bekräftigt der Regisseur: „Es gibt Aufschluss über seine Professionalität, sein Verantwortungsbewusstsein als Detektiv, aber auch darüber, dass er derjenige ist, der sich immer an die Regeln hält.“
Doch es dauert wie gesagt nicht lange, bis Hae-jun mit sämtlichen Prinzipien bricht. Und Park, selbst ein großer Perfektionist, tut es ihm gleich. Für ihn hat dieser Prozess allerdings schon vor sechs Jahren begonnen, als er mit Die Taschendiebin seine erste ungewöhnliche, sehnsüchtige, wunderschön verwirrende Liebesgeschichte vorlegte. Natürlich steckte auch dahinter ein Thriller. Natürlich war in den überaus elegant fotografierten Bildern ebenfalls nichts, wie es scheint. Basierend auf dem Bestsellerroman von Sarah Waters strickte Park eine erotisch aufgeladene Handlung, versetzt in das Korea der 1930er Jahre, in der sich jeder verstellte, alle Geheimnisse hatten und keiner die Wahrheit sagte. Und es scheint beinahe so, als hätte der Regisseur, der sich vor fast 20 Jahren mit dem brutalen Rachethriller Oldboy (2003) einen festen Platz in der Filmgeschichte sicherte, sein neues Metier darin gefunden, mit verschachtelten Psychodramen das Publikum permanent auf die falsche Fährte zu locken. Zwischenzeitlich nutze er zwar die Gelegenheit, sein Repertoire zudem mit Komödien wie I’m A Cyborg, But That’s OK (2006), dem düsteren Vampirmärchen Thirst (2009), der Endzeit-Dystopie Snowpiercer (2013) und nicht zuletzt dem Genre des Spionage-Thrillers in seiner TV-Serienadaption von John le Carrés The Little Drummer Girl zu erweitern. Doch Decision to Leave, für den Park in diesem Jahr in Cannes mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet wurde, markiert eindeutig eine neue Ära für den mittlerweile 59-Jährigen …
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DECISION TO LEAVE / HEOJIL KYOLSHIM
Thriller/Drama, Südkorea 2022 – Regie: Park Chan-wook
Drehbuch: Park Chan-wook, Jeong Seo-kyeong; Kamera: Kim Ji-yong
Musik: Cho Young-wuk; Schnitt: Kim Sang-beom
Mit: Tang Wei, Park Hae-il, Go Kyung-Pyo, Lee Jung-hyun, Park Young-woo, Jung Yi-seo, Jeong Ha-dam
Verleih: Filmladen, 138 min
Filmstart: 3. Februar 2023