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IS ANY ONE LISTENING?

Text: Koroschetz Stefan | Fotos: Ebru Yildiz

Die Londoner Singer-Songwriterin Anna B Savage legt mit „A Common Turn ein schwer beeindruckendes Debüt vor.

Anna B Savage

Es war nicht zuletzt den sehr wohlwollenden Kritiken zu ihrer EP von 2015 geschuldet, dass Anna B Savage in eine tiefe Krise stürzte. Sie entwickelte als Reaktion auf die positive Resonananz ein sogenanntes Impostor-Syndrom, bei dem sie panische Angst bekam, als Hochstaplerin aufzufliegen, die zu Unrecht den Ruhm einfährt. Savage absolvierte einen Promotrip im April und eine Tour mit Destroyer. Dazu kamen noch Einladungen von Father John Misty und Jenny Hval, die Savage auf ihre Europatourneen als Supporting Act mitnahmen. Covid-19 machte ihr, wie uns allen, einen Strich durch die Rechnung. Am Ende dieser schwierigen Phase war Savage nicht mehr sicher, ob sie im Stande sein würde, weiterhin Musik zu machen. Der Befreiungsschlag gelang ihr erst mit der Beendigung einer toxischen Beziehung. Es ging wieder bergauf, sie machte eine Psychotherapie und ging auf Weltreisen. „I sat in the sun and read, and I ran my book club, and I went swimming in the Ladies Pond, and I went on trips, and I got drunk, started smoking again and going to parties, and I started dancing again and seeing my friends and, most miraculous of all, I started to like myself.“

Selbstbespiegelung im Chelsea Hotel #3

Wie es bei Künstlern angeblich überdurchschnittlich oft vorkommt, neigt auch Anna B Savage dazu, ihre eigenen Gedanken und Gefühle intensiv zu hinterfragen. Ein fettes Ausrufezeichen mag selbstbewusst wirken, Savage bevorzugt das Fragezeichen: „Is this even real? Do we have what I think we have? How did I get to this point? Is anyone listening?“ Oder die erste und wichtigste Frage der Platte: Do I understand this?“ Biografisch ist über Anna B Savage wenig bekannt. Gesichert ist, dass sie die Tochter eines Sänger-Ehepaars aus dem Zentrum der britischen E-Musik ist, und in diesem Zusammenhang viel Zeit in der Royal Albert Hall abgesessen hat. Einen Wikipedia-Eintrag mit zuverlässigen Fakten gibt es nicht.

Anna B Savage © Ebru Yildiz

Bemerkenswert ist schon das Video zur Vorabsingle „Chelsea Hotel #3“: Es handelt sich nicht um einen herkömmlichen Kurzfilm, wie wir ihn von unzähligen mehr oder minder begabten Popmusikern kennen, sondern eher um eine künstlerische Fortsetzung einer aus dem Erotikbereich bekannten Plattform. Die Plattform „Beautiful Agony“ hostet ausschließlich Videoclips, die sich ganz auf die Gesichter von Menschen im Augenblick der größten sexuellen Verzückung konzentrieren. Ob Savage „Beautiful Agony“ bekannt ist, ist nicht überliefert, es liegt jedoch nahe. Immerhin wird auf diesen Bildern auch die Metapher vom „kleinen Tod“ nachvollziehbarer. Gesanglich und instrumental gibt Savage eine Leonard-Cohen-Paraphrase mit umgekehrten Vorzeichen zum Besten. „He’s giving me head on my unmade bed / so I try to stay focused“, singt Savage, was ein gerüttelt Maß an Selbstermächtigung voraussetzt. Passend dazu ist die Interviewantwort von Savage auf die Frage, was sie mit der Textzeile in der Cohen-Paraphrase „I Will Take Care Of Myself (If You Know What I Mean)“ denn genau meine: „Ha! I mean taking charge of my own sexual autonomy both in a metaphorical and a literal physical sense in this song!“

Der Zusammenhang mit dem Cohen-Song sei folgender: „Yep, it’s vaguely connected to Leonard Cohen’s one for sure, I used that as a jumping off point. I was really interested in the idea of his ‚muse‘ being Janis Joplin. In fact, I was interested in the idea of the gender dynamic in the muse/artist setup more generally. Historically, many muses have been passive women whose stories haven’t been told. I felt like this was analogous to my understanding and exploration of my own sexuality and sexual decide: I had been waiting for someone else to speak or act for me, for my entire life.“ Am Ende von „Chelsea Hotel #3“ kommt dann noch der mit dem Film „Rocky Horror Picture Show“ weltbekannt gewordene Tim Curry mit ins erotische Spiel: „I was distracted to finish myself / Then think of Tim Curry in lingerie / Or holding her heavy breast / Or Y Tu Mama Tambien.“ Es wimmelt auf dem Album nur so von popkulturellen Referenzen, so wird etwa Edwyn Collins’ Eulenbecher (owl mug) zitiert, die Spice Girls oder auch Nick Drake. Dass Savage ihren ersten Orgasmus im Alter von 18 Jahren hatte, wollten manche vielleicht gar nicht so genau wissen. Jedenfalls fristet der Cunnilingus und die weibliche Selbstbefriedigung  gegenüber anderen Sexualpraktiken ein Schattendasein, ganz im Gegensatz zu seinem Pendant, der Fellatio, die vor allem im stark männlich dominierten HipHop mit den Begriffen „sucking“ oder „blowjob“ schon lange Einzug in die Alltagssprache gefunden haben. 

Anna B Savage © Ebru Yildiz

Der Wendepunkt

Einen Wendepunkt (A Common Turn) im Leben der Künstlerin brachte ein Vogel, dessen Namen fast genauso klingt wie der Titel von Savages Langspiel-Debüt „A Common Turn“. Der Flusschwalbe (Common Tern) hat Savage auf dem Album einen eigenen Song gewidmet, welcher der Schlüsseltrack des Albums ist. Im Schwarzweiß-Video zu „A Common Tern“ sieht man die Musikerin mit verbundenen Augen tänzeln. „On our own / little jetty / jutting out in the lake / as I reached for the fish hook / he called my name / look Anna! it’s a Common Tern“. Im Bild ein stark mit Schlamm verschmutzter (oder auch blutiger) Arm. „What do you love about me? I asked him / he paused / and then said / ‚I love how much you love me!‘“ Savage wälzt sich schlammverschmiert am Boden und simuliert damit das Leiden des Vogels. Es folgt der Refrain: „We watched the common terns fly in and then stop dead / suspended and hung by a thread / We held our breathe / they held their place / then cried out / and dived down / It’s a common tern.“ Im zweiten Teil des Songs liegt Savage im Bett mit ihrem Partner und erzählt ihm von ihrer Erfahrung. „I take his hook out from my cheek / and place it in his hand.“ Es folgt nochmal der Refrain, und mit den Worten „I’m sorry it’s just a common turn“ endet der Song, in dem es auch um die Befreiung aus einer toxischen Beziehung geht. „Sie (die Flusschwalben, Anm.) sind verdammte Dinosaurier, und wir denken, dass sie ganz normal sind. Die riesigen Reisen, die sie auf sich nehmen, ihre immerwährende Präsenz. Auf der einen Seite sind sie so vertraut, aber auf der anderen Seite so komisch und seltsam“, gibt Savage in einem Interview zu Protokoll. 

Wenn Savage über Veränderungen singt, kommen oft Vögel als Symbol ins Spiel, hier ganz explizit. Das Stück ist darüber hinaus besonders bemerkenswert, als es ein persönliches Erweckungserlebnis, private Probleme und Umweltschutz, Klimawandel bzw. Artensterben in einem Song bündelt. „A Common Tern“ erschüttert einerseits, vermittelt aber auch auf der Basis von avancierten Sounds in Verbindung mit dem Videoclip Hoffnung, dass die Welt doch noch gerettet werden könnte. Die Hoffnung, dass es der Menschheit doch gelingen kann, die vielzitierten Sustainable Development Goals (STGs), die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen, zu erreichen.

Grandioser Songzyklus

Es fällt keinesfalls leicht, aus dieser Sammlung von  Spitzensongs einzelne herauszupicken. „Dead Pursuits“ ist mit seiner beinahe verzweifelten, ja dramatischen Anmutung ein Rückblick auf Savages schwere Lebenskrise. Sie selbst kann ihre Musik in dieser Phase nur als medioker abtun. Tatsächlich ist „Dead Pursuits“ ein erschütternder Song über gescheiterte Versuche. Auf der Basis eines ausgeklügelten, dichten Soundkleids, das auf Savages eigenwilligem, oft dramatischem Gitarrenspiel fußt, ist ihr ein im besten Sinn erschütterndes Stück geglückt. Die  Schwarzweißbilder im entsprechenden Video können die Intensität des Songs noch weiter steigern. Im direkten Vergleich leichtere Kost, wenigstens im Sound, ist das zu Herzen gehende „Baby Grand“, das mit leichtem Gezupfe (die Gitarre wird fast immer gezupft) anhebt, sich dann aber im Sound gewaltig verdichtet und wieder auf- und abschwellt. Thematisch geht es (auch) um die Angst, dass ihr Partner eine weitere Freundin haben könnte und die Wieder-Kontaktaufnahme mit der ersten Liebe. Und dann ist da noch das düstere Stück „Two“, welches mitten im Song plötzlich eine technoide Anmutung bekommt.
Eine kühne Komposition, die unvermittelt abreißt. Trotzdem lässt sich schon jetzt prognostizieren, dass dieses herausfordernde Album ein Minderheitenprogramm bleiben wird. Zu offensichtlich schreit dieses Opus vermutlich für viele nach KUNST in großen Lettern! Etwas zu gespreizt, spröde und aufgesetzt könnte es von manchen aufgenommen werden, eventuell auch schlicht als zu schwierig und anstrengend. Doch an Erwartungshaltungen darf sich eine Vollblutkünstlerin wie Savage ohnehin nicht orientieren. In Österreich wäre sie ein passendes  Booking für etwa das Kremser Donaufestival oder artverwandte Veranstaltungen. Gebucht war sie bereits von der Vienna Songwriting Association für das Porgy&Bess in Wien im Rahmen des Bluebird Festivals im November 2020. Warum diese Show nicht stattfinden konnte, muss nicht näher erläutert werden. Ein schwer beeindruckendes Debüt in voller Länge ist das Album allemal.

Literarische Inspirationen und Gesangsvorbilder

Wenig überraschend ist Anna B Savage auch begeisterte Vielleserin. In einem Interview erläutert sie ihre (nicht nur) literarischen Vorlieben: „I keep referring to myself as a magpie, and I think that’s true: if I like something, I’ll pick it up and store it away. I’m a big reader, always have been, of poetry and fiction (and increasingly non-fiction). Anything that facilitates learning, to be honest. Corncrakes arose from reading two books almost back to back: The Outrun by Amy Liptrot“ (deutsch: „Nachtlichter“, btb 2017) and The Summer Book by Tove Jansson. I had a book of Seamus Heaney’s poems with me when I was writing the lyrics, and also a Larkin’s The North Ship. I found that I Love Dick by Chris Kraus was super important in allowing me to feel able to write this album, too. I sent her a copy to say thank you.“

Dass das Album überhaupt fertiggestellt werden konnte, hat die Singer-Songwriterin William Doyle aka East Indian Youth zu verdanken, der maßgeblich an der Produktion beteiligt war. Als gesangliches Vorbild für ihre beeindruckende mindestens Alt-Vibratostimme nennt Savage übrigens Ella Fitzgerald, sie wurde aber auch schon mit Angel Olsen, Anohni (Ex-Antony & the Johnsons), Aldous Harding oder Haley Fohr alias Circuit Des Yeux verglichen.

 

Anna B Savage live: 30. Oktober, Haus der Musik Wien

Anna B Savage, A Common Turn (City Slang)

 

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