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KAMPFKUNST

Text: Pamela Jahn | Fotos: Polyfilm

Mit ihrer Dokumentation „All the Beauty and the Bloodshed“ über Nan Goldin und ihren Kampf gegen den Pharmakonzern Sackler hat die Filmemacherin Laura Poitras den Goldenen Löwen in Venedig gewonnen. Im Interview spricht sie über ihre Zusammenarbeit mit Goldin und warum ihr Aktivismus so wichtig ist.

Nan Goldin at the Harvard Art Museums. Courtesy Obama Foundation. Foto: Polyfilm

 

Miss Poitras, was verbindet Sie mit Nan Goldin?
Ich empfinde eine große, tiefe Liebe und Bewunderung für Nan, ihre Arbeit und ihre Tapferkeit. Ihr Kunst ist erschütternd persönlich und aufschlussreich. Und natürlich bin ich keine Künstlerin, aber ich habe das Gefühl, dass es eine treibende Kraft gibt, die uns verbindet. Vielleicht ist es die Ablehnung von Ungerechtigkeit, der Drang, zu zeigen, dass es noch eine andere Wahrheit gibt. Das spüre ich auch. Diese Art der Ablehnung des Leugnens der Verantwortung. Wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen, auch wenn sie schmerzlich oder schädlich ist. In der Hinsicht sind wir uns beide sehr ähnlich.

Mit welchen Gedanken Sie an das Projekt herangegangen?
Als wir zu filmen anfingen, habe ich mich gefragt: „Wie kann ich meine Anwesenheit in dieser Sache rechtfertigen?“ Und sie sagte scherzhaft: „Warum sollte sich jemand für mich interessieren?“ Ich glaube, wir hatten beide diese Art von gegenseitigem Respekt füreinander. Aber was mich wirklich fesselte, war die Tatsache, dass Nan, diese renommierte Künstlerin, die in den Sammlungen der meisten westlichen Museen vertreten ist, ihre Macht nutzt, um eine Familie zu stürzen, die diese Institutionen unterstützt. Für mich ist das die größte Geschichte.

Wie haben Sie sich kennengelernt?
Wir kennen uns schon eine Weile. Aber 2019 brachte uns eine gemeinsame Freundin zusammen. Hito Steyerl, eine deutsche Künstlerin, startete damals einen Aufruf, um gegen Yana Peel, die damalige Direktorin der Serpentine Gallery zu protestieren. Es war bekannt geworden, dass sie und ihr Mann Teile der NSO Group erworben hatten, einer sehr berüchtigten Cyberwaffenfirma, über die ich seitdem auch einen Film gedreht habe. Wir kamen zusammen, um Hito bei der Abfassung dieses Protestschreibens zu helfen. Und daraufhin kamen wir ins Gespräch.

Inwieweit unterscheidet sich „All the Beauty and the Bloodshed“ von Ihren früheren Arbeiten?
Es gab einige Dinge, die sich sehr vertraut anfühlten. Ich folge einer Person, die sich der Macht entgegenstellt. Das ist eigentlich immer der Kern meiner Arbeit. Ich finde es spannend, Menschen zu beobachten, die Strategien entwickeln, um einflussreichen Kräften entgegenzuwirken. Aber die emotionale Tiefe, die Nan in ihrer Arbeit findet, ist etwas, was meine früheren Filme nicht auf die gleiche Weise erreicht haben. Und es bedurfte einer großen Sorgfalt, denn es war mir wichtig, dass dieser Film auch einige der Prinzipien verkörpert, die Nan in ihrer Kunst vertritt. Dazu gehört, wie sie mit den Menschen arbeitet, die sie fotografiert, um sicherzustellen, dass sie Handlungsfreiheit haben. Als wir mit den Audio-Interviews begannen, die man im Film hört, gab es einen Moment, als wir kurz innehalten mussten, weil es wirklich in die Tiefe ging. Und Nan musste wissen, dass auch sie die Möglichkeit hatte, sich die Gespräche später noch einmal anzuhören, bevor die Welt sie hören würde, weil ihre Aussagen zum Teil so intensiv und unverfälscht sind.

Und in kreativer Hinsicht?
Für mich ist der Film ein Porträt, keine Biografie. Nan ist eine Kollaborateurin. In ihrer Kunst gibt sie viel über ihr Leben preis, was hoffentlich zum Verständnis des Publikums für ihre Arbeit beiträgt. Aber sie vertraut mir auch, und ich denke, das ist wirklich schwierig. Wenn man bedenkt, wie verletzlich sie sich macht, finde ich das beängstigend und unglaublich mutig, und ich glaube, das ist sie in all ihren Arbeiten. Sie beschreibt es so, als käme ihre Kunst aus persönlicher Erfahrung, fast wie aus dem Inneren ihres Körpers heraus. Etwas anderes kennt sie nicht. Und ich fühlte mich verpflichtet, die Geschichte richtig zu erzählen, sowohl Nans eigene Vergangenheit als auch die Beweggründe ihrer Kunst und die Arbeit von P.A.I.N. Gleichzeitig sollte es aber auch ein Film werden, der eine Art von universeller Bedeutung hat.

War es von Anfang an klar, dass Sie Nan Goldins Fotos, insbesondere die Diaserie „The Ballad of Sexual Dependency“, als eine Art Rahmen für den Film verwenden würden?
Zunächst einmal wollte ich diesen zeitgenössischen Thriller über ihren Aktivismus und die Arbeit von P.A.I.N. festhalten. Und dann tauchten die anderen Elemente auf, als ich mit Nan sprach. Sie erzählte mir von der Ausstellung „Witnesses: Against Our Vanishing“, die sie 1989 organisierte, und dass die Show damals eine landesweite Kontroverse auslöste. Ich hatte das Gefühl, dass diese beiden historischen Momente von damals und heute etwas sehr Interessantes und Erschütterndes in sich hatten. Es gab diese bemerkenswerten Parallelen zwischen Amerika und der Krise rund um AIDS und dem, was sie im Rahmen dieser Ausstellung im Hinblick auf all ihre Freunde zum Ausdruck brachte, die sie auf tragische Weise verloren hatte. Es sind ihre Liebhaber, ihre Freunde, ihre Mitbewohner. Heute sagt sie: „Ich habe eine Generation verloren. Ich kann nicht noch eine verlieren.“ Die Audio-Interviews, in den sie darüber spricht, bilden die Grundlage für die persönliche Ebene des Films. Ich habe mit dem großartigen Schnittmeister Joe Bini zusammengearbeitet, der zuletzt unter anderem mit Lynn Ramsey gearbeitet hat. Er ist einfach ein meisterhafter Geschichtenerzähler, wenn es darum geht, die verschiedenen Erzählstränge zu steuern.

Haben Sie speziell nach einem Cutter gesucht, der auch im fiktionalen Kino tätig ist?
Das ist eine interessante Frage. Ich habe im Laufe der Jahre mit verschiedenen Schnittmeistern zusammengearbeitet, und Joe ist ein toller Geschichtenerzähler, aber er arbeitet auch mit Werner Herzog zusammen. Er bewegt sich also zwischen Dokumentar- und Spielfilm. Und Mathilde Bonnefoy, mit der ich Citizen Four geschnitten habe, macht auch beides. Ich glaube, dass Leute wie sie einen bestimmten Blickwinkel einbringen. Aber auch eine Cutterin wie Amy Foote, die viel mit Videomaterial und im Bereich Cinéma vérité arbeitet, hat ein scharfes Auge für diese Art von Schnitt. Letztlich geht es ums Filmemachen, um das Erzählen von Geschichten. Es geht also nicht um Kategorien wie Fiktion oder Dokumentation. Aber bei Dokumentationen kommt die Last der Wahrheit einer Person erschwerend hinzu. Zudem gilt es, ethische Fragen, Fragen der faktischen Wahrheit zu berücksichtigen.

Wenn man sich Ihre bisherigen Filme anschaut, scheint es eine Verlagerung von der Betrachtung realer Kriege hin zum Kampf gegen Institutionen und Unternehmen zu geben. Stellen sie heute die größere Bedrohung dar?
Ich denke, die US-Regierung und das Pentagon sind eine große Bedrohung für die Welt. Und ich persönlich kann nicht ignorieren, dass Julian Assange im Moment im Gefängnis sitzt und die US-Regierung versucht, ihn unter dem Espionage Act auszuliefern, weil er einen ähnlichen Journalismus betreibt, wie auch ich ihn verfolge. Ich habe ein Op-Ed geschrieben, in dem ich mich ebenfalls der Verletzung von Spionagegesetzen schuldig gemacht habe. Das Risiko der Macht der US-Regierung ist also sehr real, es ist real für Journalistinnen und Journalisten wie Assange und mich. Das verbindende Element in meinen Arbeiten ist, denke ich, der Fokus auf die Aufdeckung von Machtmissbrauch. In diesem Fall handelt es sich um eine Milliardärsfamilie, die Sackler-Familie, die die falsche Vermarktung eines Medikaments mit hohem Suchtpotenzial missbraucht und daraus großen Profit gezogen hat. Sie haben wissentlich ein Medikament beworben, das Hunderttausende von Menschen getötet hat. Und es geht um das Versäumnis der Regierung, etwas dagegen zu unternehmen. Bis heute ist niemand zur Rechenschaft gezogen worden. Aber wie Nan sagt: Solange es Gefängnisse gibt, sollten sie hinter Gittern sitzen.

Fühlen Sie sich manchmal machtlos, weil niemand etwas dagegen unternimmt?
Ja. Einerseits könnte man von einem Teilsieg sprechen, weil die Arbeit von P.A.I.N. und die Recherchen einiger investigativer Journalisten wie Patrick Radden Keefe und Beth Macy dazu geführt haben, die Sacklers an den Pranger zu stellen und ihre Namen von den betreffenden Institutionen zu entfernen. Andererseits geht es nicht um Rechenschaftspflicht, sondern immer noch um Straffreiheit. Die Beschämung kultureller Räume allein führt nicht zu einem strukturellen Wandel. Und die Leute, die dafür verantwortlich sind, können immer noch ihr Leben genießen, obwohl ihr Reichtum auf der Zerstörung des Lebens unzähliger Menschen beruht.

Sehen Sie sich in erster Linie als Journalistin oder als Filmemacherin?
Als Filmemacherin. Ich denke, dass es meine Aufgabe ist, Filme zu machen, die sich mit Themen befassen, die mir am Herzen liegen. Aber sie sind kein Mittel zum Zweck, sie sind kein Ersatz für Aktivismus. Es gibt Menschen wie Nan Goldin, Julian Assange oder Edward Snowden, die mit ihrer Arbeit enorme Risiken ohne Sicherheitsnetze eingehen, die den Status quo ablehnen und versuchen, etwas zu verändern. Ihre Geschichten sind es, zu denen ich mich immer wieder hingezogen fühle. Und meine Filme sind hoffentlich ein Fenster, um der Welt insgesamt vielleicht ein bisschen kritischer und mit wachen Augen gegenüberzustehen.

Haben Sie Bedenken, dass Sie an Ihre Grenzen stoßen, wenn Sie zeigen, was Ihnen wichtig ist?
Natürlich mache ich mir darüber Gedanken. Ich war eine Zielscheibe, auch ich stand auf der Watchlist der US-Regierung. Und ich sage das, weil ich stolz darauf bin. Wenn die US-Regierung mich als potentiell gefährlich einstuft, weiß ich, dass ich etwas richtig gemacht habe. Aber es ist auch ein Zeichen der Verbundenheit mit den vielen Menschen, die zu Unrecht beschuldigt und angeklagt werden. Mir ist es wichtig, Soli-darität zu zeigen.

 

ALL THE BEAUTY AND THE BLOODSHED
Dokumentation, USA 2022 – Regie Laura Poitras
Verleih: Polyfilm, 113 Minuten
Filmstart: 25. Mai 2023

 

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