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Kein Weg Zurück

David Leitchs Actionkomödie „Bullet Train“ ist der Sommer-Blockbuster schlechthin – und ein rasantes Wiedersehen mit Brad Pitt, der darin mit sehr viel Spaß und Schlagkraft auf Reisen geht.

Bullet Train © Sony Pictures

Ein kleiner Reisetipp vorweg: Wenn Sie ein Ziel vor Augen haben, aber die Route nicht kennen, fahren Sie nicht mit Brad Pitt. Er hat, falls Sie sich verfahren, ein Problem damit, umzudrehen. „Wenn ich aus der Tür gehe und etwas vergessen habe, kann ich nicht zurück gehen und es holen“, erklärte er einmal einem Reporter des „Empire“-Magazins. Es liege einfach in seiner Natur. „Wenn ich auf der Straße fahre und eine Abbiegung verpasse, muss ich weiterfahren. Ich kann nicht umkehren. Es ist eine Art psychologischer Defekt. Ich weiß nicht, warum.“
Pitt sagt, das sei bei ihm schon immer so gewesen, und es macht Sinn. Ein Filmstar von seinem Kaliber kennt nur eine Richtung. Wenn einer wie er den Rückwärtsgang einlegt oder zu zweifeln beginnt, ob an sich selbst oder den Entscheidungen, die er trifft, hat er verloren – im Leben und im Kino. Noch problematischer wird es, wenn man, wie er, einen Auftragskiller spielt, der in einem japanischen Hochgeschwindigkeitszug auf eine ganze Reihe anderer Auftragskiller trifft, die alle nur eines im Sinn haben: Den anderen zu töten. Natürlich ist auch Geld im Spiel, eine ganze Menge sogar, und um Ehre und Rache geht es sowieso.

Bullet Train © Sony Pictures

Bullet Train, David Leitchs großer Sommer-Blockbuster, in dem Pitt die Hauptrolle spielt, treibt das „point of no return“-Prinzip gewissermaßen auf die Spitze. Oft weiß man nicht mal mehr, wo genau jetzt hinten und wo vorne ist, denn nicht nur der Shinkansen, mit dem Pitts Ladybug im Film von Tokyo nach Kyoto unterwegs ist, bewegt sich in einem Tempo, dass einem permanent der Atem stockt. Auch die Handlung schreitet mit Vollgas voran. Motive drehen und wenden und Leichen stapeln sich, so wie es der Manga „Maria Beetle“ des japanischen Bestseller-Autors Kōtarō Isaka vorgibt, den Zak Olkewicz unter Leitchs Aufsicht für die Leinwand adaptiert hat. Dabei will Ladybug eigentlich die ganze Zeit nur eines: aussteigen. Aber dazu kommt er nicht. So wie auch Pitt selbst nicht zur Ruhe kommt, seit er Mitte der achtziger Jahre sein Journalismus-Studium abbrach, um nach Los Angeles zu gehen und Schauspieler zu werden. In den frühesten Stadien seiner Karriere gab er zunächst noch den flotten Kellner (No Man’s Land), den anonymen Partygast (No Way Out), oder, wie in seinem Leinwanddebüt Hunk, den gutaussehenden Surf-Bruder von nebenan, der mit seinem Vorzeige-Waschbrettbauch alle Mädchen am Strand in Ohnmacht fallen ließ. Aber Pitt lernte schnell, dass gutes Aussehen auch in Hollywood nicht alles ist, wenn man ganz nach oben will – und vorhat, dort zu bleiben. Bereits Mitte der 1990er Jahre hatte sich der Junge aus Missouri mit seinem Aussehen, dem offensichtlichen Talent, ein bisschen Glück und ein paar klugen Rollenentscheidungen von Seiten der Casting-Chefs in eine Position vorgespielt, die es ihm ermöglichte, bald um die begehrtesten Rollen in der Traumfabrik zu buhlen. Vor allem sein kleiner, aber legendärer Part in Thelma & Louise trug schließlich dazu bei, dass nach Ridley Scott auch dessen Bruder Tony auf ihn aufmerksam wurde, der ihn in True Romance für einen flüchtigen, aber beeindruckenden Auftritt buchte, bevor ihn Neil Jordan ihn an der Seite von Tom Cruise in der Gothic-Romanze Interview with the Vampire besetzte.

Von dem Moment an wusste Pitt, dass er nicht zu Levi’s- Werbespots und Gastauftritten in Dallas zurückkehren wollte. Also setzte er alles daran, seine Karriere in die richtigen Bahnen zu lenken. Er wählte Projekte aus, die nicht für jeden auf der Hand lagen: Seven, Twelve Monkeys, Fight Club, Babel, The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford, The Tree of Life. Er schlüpfte in Rollen, die mit der Wahrnehmung des Publikums spielten und die sein Profil schärften; er spielte in Filmen, die ihn geschickt mit den besten Regisseuren auf der Höhe ihres Könners zusammenbrachten (David Fincher, die Coen-Brüder, Steven Soderbergh, Terrence Malick, Quentin Tarantino). Seine komplette Filmografie ist voller Figuren, von denen fast jede einzelne mit einem unverwechselbaren Flair daherkommt: Sei es der Schlägertyp in Snatch, der Nazi-Mörder in Inglourious Basterds, der härteste Schwertschwinger der antiken Welt in Troja oder der Baseball-Manager Billy Beane in Moneyball. Sogar gegen sein eigenes Prinzip, nicht zurückzuschauen, hat er einmal angespielt, als er in Finchers The Curious Case of Benjamin Button einen Mann verkörperte, der rückwärts altert.

Joey King in Bullet Train © Sony Pictures

Als Schauspieler – denn Pitt ist natürlich mittlerweile auch ein gefragter Produzent – sind seine Entscheidungen mit zunehmendem Alter nur noch spannender geworden. Anders als beispielsweise Tom Cruise, der sich von den eigenwilligen Charakterrollen entfernt hat, die ihn in den Neunzigern so interessant gemacht haben, und sich stattdessen als zeitloser Action-Held neu erschuf, geht Pitt bei seiner Filmwahl heute mehr Risiken denn je ein. Nicht alle Projekte zahlen sich freilich aus, aber selbst Fehltritte wie Gore Verbinskis The Mexican, David Michôds War Machine oder By the Sea von seiner Ex-Frau Angelina Jolie sind nie komplett zu verwerfen. Und auch sie zeigen, worin Pitt bis heute am besten ist, nämlich die Erwartungen sowohl einer Fans als auch seiner Kritiker zu unterlaufen.
Vielleicht passt die Rolle des Ladybug in Bullet Train auch deshalb so gut zu ihm, weil er sich darin permanent selbst übertrifft, selbst wenn sein Hitman aus unerfindlichen Gründen permanent vom Pech verfolgt wird. Für Leitch war Pitt jedenfalls ganz klar die erste Wahl, und das nicht nur, weil er Haudrauf, cool und albern mit gleicher Souveränität spielen kann, oder weil eine klassische Action-Komödie wie diese heute einen echten Filmstar wie ihn braucht, um in einem von Superhelden bevölkerten Kino-Universum überhaupt eine Chance zu haben. Nein, Pitt war auch die erste – die einzige – Wahl, weil Leitch und ihn eine lange Freundschaft verbindet, die auf die Zeit zurückgeht, als der Regisseur noch als Stuntdarsteller für den Hollywoodstar gearbeitet hat, so beispielsweise in Fight Club oder Mr. And Mrs. Smith, bevor er sich zunächst als Ko-Regisseur bei John Wick und anschließend bei Atomic Blonde zum ersten Mal solo hinter der Kamera versuchte.
Und was hat Pitt selbst dazu verleitet, auf einen Zug aufzuspringen, der voller dubioser Fahrgäste ist, die ihm fast ausnahmslos an den Kragen wollen? Immerhin war Bullet Train eines der ersten Angebote, das Pitt annahm, nachdem er gerade einen Oscar für seinen famosen Auftritt in Tarantinos Once Upon a Time in Hollywood gewonnen hatte. So mancher Star würde nach einer derartigen Huldigung sicher eher dazu tendieren, gewichtigere Drehbücher zu favorisieren. Aber Pitt ist eben nicht wie viele seiner Kollegen. Für ihn waren es neben Leitch auf dem Regiestuhl in erster Linie der Ton, der Humor und einfach die ganze große Sause, auf die er ansprach. Denn wie bei so vielen Menschen haben die letzten zwei Jahre in Isolation und Lockdown auch bei einem Überflieger wie ihm gewisse Spuren hinterlassen. Das Skript, sagt Pitt, hat geholfen: „Es brachte mich einfach zum Lachen. Und ich dachte mir: Das ist es. Das gibt mir jetzt gerade ein gutes Gefühl. Und wenn ich mich gerade gut fühle, bin ich mir sicher, dass es ein paar anderen genauso gehen wird.“

Bullet Train © Sony Pictures

Die Chancen, so viel sei an dieser Stelle verraten, stehen gut. Bullet Train hat alles, was ein Blockbuster-Spektakel jener Größenordnung braucht, und noch einiges mehr. In den Nebenrollen spielen sich vor allem Aaron Taylor-Johnson, Brian Tyree Henry und Joey King als Ladybugs hartnäckigste Gegenspieler ganz nach vorne, die Pitt nicht selten ins Schwitzen geraten lassen. Wie intensiv der Schauspieler dabei diesmal selbst bei der Sache war, ist nicht ganz klar. Denn während Leitch seinem Helden zuspricht, fast alle seiner Stunts selbst übernommen zu haben, ist Pitt in der Hinsicht etwas zurückhaltender: „Wenn ich die Arbeit einem Stunt-Typen überlassen kann, bin ich mehr als glücklich, an der Seite zu sitzen und einen Kaffee zu trinken. Mein Freund Tom Cruise wird immer besser und macht immer verrücktere, todesmutigere Action. Ich bin das Gegenteil davon. Ich werde fauler.“
So richtig glauben will man es ihm nicht. Zumindest räumt er ein, dass es Tage gab, an denen er ein wenig geprellt nach Hause kam – er ist immerhin ein Mann, der auf die 60 zugeht. Aber über sowas denkt Pitt gar nicht nach. Das ist für ihn quasi „Berufsrisiko“. Um so aktiver war er dagegen an der Umgestaltung seiner Figur beteiligt, der in der japanischen Vorlage von Kōtarō Isaka aus dem Jahr 2010 eher einem nachdenklichen, menschenfeindlichen Killer gleichkam und in Pitts Version zu einem redseligen Oddball mit Fischerhut und einer Abneigung gegen Waffen wird. Überhaupt will Ladybug sowieso aus dem ganzen Geschäft nur noch raus. Dieser eine Auftrag noch, dann ist Schluss. So erklärt er es auch Sandra Bullocks Maria Beetle, während sie ihm Anweisungen über seine Ohrstöpsel gibt. Doch sobald er in den Shinkansen steigt, merkt Ladybug, dass er nicht der Einzige ist, der hinter der Aktentasche her ist, die er für seinen Auftraggeber entwenden soll. Und damit sind die Weichen für einen herrlich wilden Action-Plot gestellt, der keine Wünsche offen lässt – und kein Zugteil heil.
Ob es am Ende tatsächlich einer der diversen Rivalen bis nach Kyoto schafft, ist die Frage. Und wenn ja, könnte es dann noch einmal mit Pitt & Co auf Reisen gehen? „Wir hoffen, dass wir eine überzeugende Welt geschaffen haben“, sagt Leitch vorsichtig, „und sie ist sicher komplex. Es gibt viele Geschichten, die daraus entstehen könnten.“ Für diesen Sommer dürften sie mit Bullet Train jedenfalls ausgesorgt haben. Es ist bei aller Action vor allem aber eine große Freude, Brad Pitt erneut mit so viel Spaß, Elan und Charme bei der Arbeit zu sehen. Hier ist ein Schauspieler am Werk, der seinen Job genießt und einfach verdammt gut ist, in dem, was er tut. Nicht umsonst hält er es deshalb bis heute mit dem Mantra, dass ihn im Laufe seiner Karriere immer am besten beraten hat, nämlich ihn nach Taten und nicht nach Worten zu beurteilen: „In Missouri, wo ich herkomme, reden wir nicht darüber, was wir tun – wir tun es einfach …“ Gerne, immer weiter so. Mit voller Kraft voraus.

 

BULLET TRAIN
Action-Komödie, USA 2022 – Regie David Leitch
Drehbuch Zak Olkewicz Kamera Jonathan Sela Musik Dominic Lewis
Mit Brad Pitt, Joey King, Aaron Taylor-Johnson, Brian Tyree Henry,
Andrew Koji, Hiroyuki Sanada, Michael Shannon, Benito Antonio Martínez
Ocasio, Sandra Bullock, Karen Fukuhara
Verleih Sony, 153 Minuten
Filmstart 3. August 2022

 

| FAQ 66 | | Text: Pamela Jahn
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