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KLINGE, NADEL, TILT

Die Fotografin Anna Dąbrowska-Lyons hat die Anfänge des Punk im Polen der 1980er Jahre dokumentiert. Eine Schau ihrer Werke ist ab 25. November in Wien zu sehen. Zur Einstimmung ein Text über jene wilden Jahre.

Jacek Zientała, Bassist von TZN Xenna beim Open Rock 1982. Foto: Anna Dąbrowska-Lyons

Die ungeschliffene Form ist ein Element der Verneinung der bestehenden Welt und somit des kulturellen Erbes. Nun sind Soziologen gefragt, diesem Phänomen auf die Gründe zu gehen, um die Ursachen für die totale Frustration unserer Jugend zu erfassen“, sinnierte 1980 das polnische Staatsfernsehen in einem Beitrag über die Punkband „Kryzys“. Die neue rebellische Musik traf in der Volksrepublik Polen auf empfänglichen Boden. Ihre Anfänge führt sowohl zu Galerien für zeitgenössische Kunst als auch zu Kulturhäusern in der kleinstädtischen Provinz.

Punk in Polen begann der Legende nach mit Walek Dzedzej (Lesław Danicki). Er klang zwar wie Warschaus Antwort auf Bob Dylan, seine kurzlebige Formation hatte das Wortpaar „Punk Band“ aber bereits im Namen. Außerdem widerspiegelten die Songtexte seine Ablehnung der kommunistischen Realität und Mainstream-Opposition zum politischen Regime. Dzedzej performte auch mit „Złoty Cielec“ (Goldenes Kalb) und „Światowy Ząb“ (Weltzahn), zwei weiteren, ebenso flüchtigen Bands des Protopunk-Pioniers und Performers Andrzej Zuzak, der damals auch mit seiner Avantgarde-Band „Grupa w Składzie“ war. Er spielte in Unterführungen, besetzte mit Posthippies ein Abbruchhaus, gab mit seinem Punkprojekt zwei Konzerte im Musikclub „Hybrydy“ und zog im Frühjahr 1978 nach West-Berlin – unmittelbar vor der Eruption des Punk in Polen.

Siwy, Daniel und Zyzak – Bandmitglieder von TZN Xenna beim Open Rock, Krakau 1982. Foto: Anna Dąbrowska-Lyons

„Die Anfänge der Punk-Bewegung in Polen waren eine Black Box“, sagt Robert Brylewski, einer der Pioniere des Punk in Polens und Gründer von Bands wie „Kryzys“. „Ich erinnere mich an einen Artikel in der Warschauer Tageszeitung „Życie Warszawy“. Da stand zwar unsäglicher Unsinn über Punkrock im Westen, aber auch richtiges, das mein Interesse geweckt hat, etwa dass Punksongs kurz und rhythmisch wären und ihre Texte aggressiv. Genau so gefiel es mir. Ich wollte unbedingt performen, gleichzeitig war ich angewidert von Bands wie „Yes“, deren Jungs, gehüllt in Lichtorgien und in wallenden Gewändern und Pailletten, über purpurrote Heizkörper im lila Himmel sangen. Es war in der zweiten Klasse Gymnasium, als ich endlich zu meine ersten LPs kam. Ich hatte einen Schulfreund, und eines Tages kleideten wir uns so, dass allen klar sein sollte: Wir sind Punks. Dafür nahmen wir alte Sakkos, versahen sie mit unzähligen Sicherheitsnadeln und Rasierklingen und malten unsere Augen schwarz bis über die Augenbrauen, um uns vor der Rotunde zu positionieren (rundes Gebäude der PKO-Bank, damals wie heute beliebter Treffpunkt im Zentrum Warschaus, Anm. d. Ü.). Wir wollten Gleichgesinnte anlocken. Nach einer Weile begann ein Typ in einer bis zum Hals zugeknöpften Lederjacke, nach Art der damaligen Geldwechsler, um uns zu kreisen. „Definitiv ein Stasi-Mann“, dachte ich. Plötzlich kam er auf uns zu, knöpfte seine Jacke auf und wir konnten seine Krawatte sehen: Sie war gespickt mit Sicherheitsnadeln. Er sagte: „Leute – ich gehör’ auch dazu. Wir sehen uns im Bolek“. Ja, so hat es begonnen. Das war noch vor der Punk-Uniform, vor der „Ramones-Jacke“ und dem Irokesenschnitt. Damals herrschte noch völliger Freestyle.“

Kamil Stoor und Paweł „Kelner“ Rozwadowski von Deuter, Warschau 1980. Foto: Anna Dąbrowska-Lyons

Codename „Rasierklinge“

Die Musik kam von Verwandten, die Schallplatten aus England mitbrachten oder von Seeleute, die sie am Hafen verkauften. „Es gab aber auch Songs, die wir auf ‚Radio Luxembourg‘ oder ‚Radio Free Europe‘ hörten“, so Eugeniusz „Siczka“ Olejarczyk. Er war Teil einer Gruppe von Teenagern aus dem südostpolnischen Ustrzyki Dolne, die ausländische Musiksender hörten und später die Band „KSU“ gründeten. Vor dem Radio warteten sie auf ihre Favoriten „Black Sabbath“ oder „Led Zeppelin“. Stattdessen kamen „The Stranglers“. „Wir waren wie besessen, hatten das Radio in Griffnähe, um immer wieder etwas Neues zu erlauschen“, erinnert sich Olejarczyk.
Die Teenager verfassten einen Brief an „Radio Free Europe“ und übergaben ihn der Tante eines der Teenager, die zufällig nach Kanada abreiste. Sie sollte den Brief von dort aus an die Redaktion in München abschicken. „Wir haben ihnen geschrieben, dass Polens Radiosender keinen Punkrock spielen wollen […] und wir baten die Redaktion, dass sie etwas für die Hörer in den Beskiden bringt. Wir haben den Brief mit erfundenen Pseudonymen signiert, sicherheitshalber nur mit weiblichen, wobei ich mich bis heute frage, wofür diese kindische Tarnung gut sein sollte. Denn wer, wenn nicht wir, hätte RFE in Sachen Punkmusik anschreiben sollen?“, sagt der damalige „KSU“-Bandleader Bohdan „Bohun“ Augustyn.

KSU waren in ihrer Region bereits ein Begriff. Das Outfit britischer Punks kannten sie aus einer Zeitschrift, die ein Vater von einer Geschäftsreise mitgebracht hatte. „Wow“, dachten wir, „und im Nu sahen wir ihnen ähnlich“, so Augustyn. Fasziniert waren sie auch vom Stil – nicht von der Ideologie – der italienischen Schlägertrupps aus dem italienischen Film San Babila, 20 Uhr: Ein sinnloses Verbrechen, der von Straßenkämpfen zwischen Neofaschisten und Kommunisten in Mailand handelt. All dies floss in das aggressive Image der Band – man kleidete sich mit Leder, Ketten und Eisenbahnermützen.
Bald darauf wurde eine eigens den Radiohörern in den Beskiden gewidmete Radiosendung ausgestrahlt – eine volle Stunde Punkmusik. Ein Freudenfest für die Jugend und zugleich Alarmstufe Rot für die Ordnungshüter in Krosno. Der Sicherheitsapparat war jedoch mit einem anderen Phänomen konfrontiert: An Wänden der Stadt tauchten neben „PUNK“-Graffitis auch mysteriöse „WRB“-Aufschriften auf, oft zusammen mit der Darstellung des Tryzub, der ukrainischen Dreizack. Wie sich herausstellte, standen die drei Buchstaben für „Wolna Republika Bieszczad“ (Freie Republik Beskiden). Damit bekundete die lokale Punk-Szene in Ustrzyki ihren Lokalpatriotismus, während Sicherheitsorgane staatsfeindliche Aktivitäten witterten. „KSU“ blieb ihnen vorerst ebenso ein Rätsel. Zwar glaubte man, die Buchstabenkombination sei lokalen Autokennzeichen entlehnt. Doch manch ein Ordnungshüter nahm an, es hätte mit einer ukrainischen Widerstandsbewegung zu tun, weil er in den Buchstaben das Akronym für „Komitet Samostijnej Ukrainy“ (Komitee für eine Unabhängige Ukraine) erkannte. So wurde unter dem Codenamen Z˙yletka (Rasierklinge) eine Untersuchung eingeleitet.

Tomek ŚS´witalski und Robert Brylewski von Kryzys, Konzert im Da˛browski-Gymnasium, Warschau 1981. Foto: Anna Dąbrowska-Lyons

„Tilt the reality“

Ein ebenso bahnbrechendes Ereignis fand in Warschau statt. Die dortige Punkszene erwartete ein Konzert der eine britischen Post-Punkband „Raincoats“, die am 1. April 1978 im Konzertclub Riviera Remont auftraten. Den Rahmen lieferte die erste internationale Performance-Kunstschau im kommunistischen Europa „I am – International Artists Meeting“, veranstaltet von Henryk Gajewski. Robert Brylewski ruft jenes Event in seinem Buch Kryzys w Babilonie (Babylon in der Krise) in Erinnerung: „Mit dabei war auch eine Künstlerin der Punkrock-Welt. Sie war berühmt dafür, ihre Tampons auszustellen, und zwar in Schauvitrinen, mit der Beschreibung: Januar, Februar. In der Punk-Community rumorte es, da wir erfuhren, dass es auch ein Konzert geben würde. Die „Raincoats“ machten einen mächtigen Eindruck. […] Es war noch vor unserer Bandgründung, doch es stand schon fest, dass es eine Band geben würde. Die Performance der „Raincoats“ hat unseren Entschluss besiegelt.“ Im darauffolgenden Jahr gab Brylewskis Band „The Boors“ ihr Debütkonzert im Kulturhaus von Anin. Das Konzertplakat kündigte auch „The Liars“ aus Manchester an. Vor Ort sollte sich aber herausstellen, dass es bloß Locals waren (u.a. Kazik Staszewski), die Coverversionen britischer Bands performten. Angeblich fiel ein Teil des Publikums darauf rein.

„The Boors“ beeindruckten mit dem Song „I’m not a communist“. Eine solche Botschaft war 1979, öffentlich auf einer Bühne gesungen, mehr als gewagt. Trotzdem erweiterte sich die Band: Maciej Góralski, ein Philologiestudent mit Zugang zu brandneuen britischen Vinyls, stieß hinzu. Er inspirierte mit Reggae und Post-Punk, bereicherte die Band aber auch um faszinierende Songtexte. Weil sie Polnisch waren, nannte man die Band in „Kryzys“ um. Ein Wort, das in der Gierek-Endphase (Edward Gierek – Polens Generalsekretär der regierenden PVAP, 1970–1980, Anm. d. Ü.) häufig in der Presse auftauchte. „Kryzys“ thematisierten in den Nummern Probleme junger Menschen des Hier und Jetzt, was etablierte Songwriter großer Bühnenstars damals vermieden. „Neben Texten über den Schulalltag, Mädchen und die Langeweile, gab es auch Bezüge zu Oscar Wilde, Franz Kafka, William Golding und zur Bibel“, wie Rafał Księżyk in seinem Porträt über „Kryzys“ schreibt.

Tilt, Warschau 1980. Foto: Anna Dąbrowska-Lyons

„Vordergründig ging es um Musik und nicht um Ideologie, die zudem undefiniert war und eher albern und provokant erschien. Punkrock der ersten Stunde war so heterogen, dass die Meinungen darüber völlig widersprüchlich waren. Und genau das war cool. Eine demokratische Agora war geboren“, erzählt Robert Brylewski. Im selben Jahr entstand „Fornit“. Ihr Gründer, Paweł „Kelner“ Rozwadowski, später bekannt aus den Formationen „Deuter“ und „Israel“, meint über seine ersten musikalischen Erfahrungen: „Drei Akkorde und ab ging die Post. Ultimative Explosion und Expression. Totale Entladung.“
Zu diesem Ausbruch trug auch die Warschauer Band „Tilt“ bei. Ihre Mitglieder waren um einige Jahre älter als die Gymnasiasten von „Kryzys“ und „Fornit“ und sie hatten auch Verbindungen zur Kunstszene – ihr Bandmanager war Piotr Rypson, der heutige Vizedirektor des polnischen Nationalmuseums. Die Texte von „Tilt“ waren dadaistisch und in Englisch verfasst, geschrieben von Jacek „Luter“ Lenartowicz, einem ehemaligen Mitglied von „Deadlock“. Dank der bühnenbildnerischen Inszenierung ihrer Konzerte und Visualisierungen hoben sie sich gekonnt von anderen Bands ab. Eines ihrer ersten Konzerte gaben sie im Theater „Studio“ von Józef Szajna, wo der angewiderte Betreiber plötzlich den Strom abdrehte. Die Entstehung des Bandnamens „Tilt“ erläuterte Lipinski im Interview mit „Gazeta Wyborcza“: Aus Langeweile vertrieben sich Jugendliche viele Stunden täglich die Zeit mit den Spielautomaten. Jedes Mal, wenn man am Flipperautomat zu stark rüttelte, erschien die Meldung „Tilt“ und dann ging nichts mehr, Spielende, der bereits erreichte Score war weg. Und genau so wollten auch wir auf die Gesellschaft einwirken, sie „wachrütteln“ …

Lesen Sie den vollständigen Artikel in der Printausgabe des FAQ 62

Patryk Zakrzewski ist Kulturanthropologe und DJ.
Erstveröffentlichung: 2017 auf „culture.pl“

Übersetzung: Adam Pietraszkiewicz

 

Fotoausstellung
Anna Dąbrowska-Lyons – POLSKI PUNK
Polnisches Institut Wien, Am Gestade 7, 1010 Wien
Ausstellungseröffnung: 20. Jänner 2022

 

 

| FAQ 62 | | Text: Patryk Zakrzewski
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