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Kunst (der) Geschichte

Mit seinem Roman „Neuromancer“ revolutionierte William Gibson im Orwell-Jahr 1984 nicht nur die SF-Literatur, sondern trug auch zur weiteren Etablierung von ihm geprägter, uns heute völlig geläufiger Begrifflichkeiten bei: Seine Entwürfe von Virtualität und Netzkultur stifteten Wirklichkeit und erlaubten eine neue Beschreibbarkeit allgegenwärtiger Gesellschaftsentwicklungen. Mit der vorliegenden Textsammlung bekommen wir nun eine Ergänzung zu seinen bislang vorgelegten Romantrilogien geboten. Auftragsarbeiten für Zeitschriften stehen hier neben Einführungen zu kanonisierten Literaturklassikern, mediengeschichtliche Statements und Reiseberichte neben Druckfassungen bislang nur schwer zugänglicher Vorträge. Die zwischen den späten 1980ern und 2010 entstandenen Beiträge werden in der Buchfassung um kleine aktualisierende Nachschriften ergänzt, mit deren Hilfe Gibson zu einer Form nachträglicher Einschätzung und privater Aktualisierung gelangt. Die von ihm erfassten Phänomene und Wirklichkeiten verleiten ihn aber, wie man vielleicht vermuten möchte, nicht zu Prognosen; Gibson verdeutlicht vielmehr die Verflechtungen zeitlicher Inkongruenzen. Er versteht es, die Gleichzeitigkeit des eigentlich Ungleichzeitigen auszustellen.

Eine solche Position war, so darf vermutet werden, wohl auch dem italienischen Philosophen Ernesto Grassi eigen, der mittels der Neuauflage seines zentralen Werks „Kunst und Mythos“ neu entdeckt werden kann. Grassi interessiert sich in dieser konzisen Studie für den Ursprung und die Funktionen von Kunst, die er in einer ständigen, säkular überformten Absetzbewegung vom Mythos sieht. Im Mythos liegt für ihn schlicht der Schlüssel zu Existenz. Grassis wunderbar poetischer Text ist dabei weniger auf klassische Beweisführung ausgerichtet, denn einer Haltung des Fragens und dem Wunsch nach Erkenntnis verschrieben. Jede Zeile vibriert von einem ansteckenden Eros des Denkens, der zu einer durchaus risikoreichen Auseinandersetzung mit den uns faszinierenden Gegenständen verführt.

Das Verhältnis von Welt und Kunst prägt auch Norbert Schneiders jüngste Monografie: Hier wird aber keineswegs (erneut) eine Geschichte der modernen Kunst geboten, sondern vielmehr eine Darstellung der Theorie der Künste in der Moderne. Ausgehend von der Malerei wird der Frage nachgegangen, wie Künstler ihre Zugänge erläutert und begründet haben – nicht zuletzt auch über den Rahmen des jeweiligen Kunstfelds hinaus. Der Abgleich mit der sogenannten Öffentlichkeit produzierte dabei neben Theorieschriften und Poetiken eben auch idealisierte Rechtfertigungen. Schneiders überaus lesbare Überblicksdarstellung ist eine konsequente Auseinandersetzung mit der theoretischen Fassbarkeit der Bildenden Künste, in der auch historische Kontexte, Haltungsfragen und die neue Eigenständigkeit des Künstlerbegriffs ab dem 18. Jahrhundert zur Sprache kommen. Argumentativ setzt er dabei auf einem Dreischritt: Ökonomie, Politik und Kultur entwickeln sich, stets ineinander verflochten, weiter. Innovative Momente oder die Verfestigung der jeweiligen Neuerungen sind dabei ebenso Teil der Moderne wie die nicht minder realen Widersprüchlichkeiten unserer Realität.

William Gibson

Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Stuttgart: Tropen Verlag, EUR 22,60

Ernesto Grassi

Kunst und Mythos

Berlin: Alexander Verlag, EUR 25,60

Norbert Schneider

Theorien moderner Kunst

Köln: Böhlau Verlag, EUR 46,20

| FAQ 29 | | Text: Ballhausen Thomas
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