Roland Schöny: Auch in den Onlinegesellschaften heute sind kulturelle Ereignisse, sind Ausstellungen und natürlich die Studios der Kunstschaffenden weiterhin an konkrete Orte gebunden. Dafür bietet das Internet kaum Ersatz. Reisen ist Teil der Auseinandersetzung, Teil der Arbeit. Da interessiert mich von Ihnen als reisendem Kunsthallen-Direktor: Was lesen Sie denn Kunstfernes, wenn Sie unterwegs sind?
Nicolaus Schafhausen: Gute Frage, aber mit dem Begriff Kunsthallen-Direktor habe ich ein Problem. Ich bin Direktor der Kunsthalle Wien. Das ist ein Unterschied. Kunsthallen gibt es ja wie Sand am Meer, aber eine Einrichtung wie diese gibt es nur einmal. Also zur Frage: Ich reise tatsächlich sehr viel und das schon seit meinem sechsten Lebensjahr, da bin ich von Düsseldorf nach West-Berlin hin und her geflogen. Damals habe ich natürlich noch keine Zeitschriften gelesen, aber heute lese ich quasi alles, was mir an Flughäfen in die Hände fällt. Ich habe mich, glaube ich, über Jahre, mit Hochglanzmagazinen co-ernährt, neben all dem was ich gezielt lese.
Kann man sagen, dass bestimmte Zeitschriften und Magazine prägend sind? Für mich etwa würde das gelten. Ich las vom achten Lebensjahr an Pop-Zeitschriften.
Das habe ich auch alles gelesen, sehr früh Spex und die englische Variante von Rolling Stone. Das prägt nicht nur das Weltbild, sondern auch das Kulturbild.
Besonders seit den 1990er Jahren öffnet sich die bildende Kunst stark, das Feld der Kunst wird zu einem Umschlagplatz für verschiedene Themen und Narrative, die von außen herein kommen. Philosophische Aspekte, sehr stark: politische Themen, Gender, Globalisierung und natürlich Pop-Kultur. Ich persönlich hatte den Eindruck, dass in der Kunst sehr viele Dinge zusammenkamen, die zuvor noch sehr weit nebeneinander gestanden sind.
Für mich fängt das schon ein bisschen früher an: in den 1980er Jahren. Das mag daran liegen, wie und wo ich aufgewachsen bin. In Düsseldorf, wo ich mich in meiner puber-tierenden Phase sehr viel aufgehalten habe und sehr jung, sehr viel ausgegangen bin: Ratinger Hof, ein legendärer Post-Punk-Club damals. Zudem waren in West-Deutschland Magazine wie Spex und Wolkenkratzer sehr stilprägend. Ich habe die auch gesammelt, da war ich 17 oder 18, Wolkenkratzer operierte damals an den Schnittstellen zwischen Kunst, Mode und politisiertem Lifestyle. Ich bin zu jung für die Punk-Bewegung, aber die hat mich trotzdem irgendwie verschlungen. Also das hat schon mein Weltbild geprägt. Das waren sozusagen meine Beatles.
Inwieweit hat sich das auf Ihr Kunstverständnis ausgewirkt?
Ich hatte neben dieser Szene sehr früh mit Kunst zu tun. Beziehungsweise mit dem Kunstsystem, deshalb wusste ich, ich will da rein. Das war irgendwie alles: Politik, Lifestyle, Lebensgefühl und Kunst.
Also nicht so sehr ästhetische Operationen, sondern das Gesamtbild war wichtig.
Genau. Ästhetische Operationen kamen erst später.
In unserer Gegenwart erleben wir eine Transformation Europas, wo nicht absehbar ist, wie sich diese in nächster Zeit manifestieren wird. Aber es handelt sich um eine dauerhafte Veränderung durch Flüchtlingsbewegungen, was sich im übrigen – bedingt durch zahlreiche lebensbedrohliche Konflikte – in mehrere Gebieten der Erde ereignet. Es wird sich dies auf die Bevölkerungsstruktur auswirken, es wird sich das Verhältnis der Mentalitäten zueinander ändern und es werden neue Arbeitsstrukturen entstehen. Zugleich häufen sich selbst in den Zeitungen mit sehr hohem Niveau, in den sogenannten Qualitätsmedien, äußerst zynische und von Ressentiments behaftete Postings, die eine Art Heimat-ideologie durchklingen lassen. Berührt diese angespannte Situation auch die inhaltlichen Überlegungen in einer Kunsthalle, die immer wieder sehr engagierte Versuche unternimmt, Realitätszusammenhänge abzubilden und kritisch zu reflektieren? Kommt die Kunst jetzt nicht in eine Defensivsituation angesichts einer derart übermächtigen Realität?
Ziemlich komplexe Frage. Also erstens kommt es da natürlich auf die Art der künstlerischen Produktion an und die Konditionen, unter welchen sie produziert wird. Wenn man Kunstausstellungen macht, thematische wie auch Einzelausstellungen, reagiert man ja nicht unbedingt auf tagesaktuelle Politik. Das ist natürlich immer auch ein Blick in die Situation, meiner Ansicht nach, in die allgemeine Gefühlslage der Gesellschaft. Eine Ausstellung ist ja keine Reportage und auch kein direkter Kommentar. Als Kunstinstitution sind wir ein Medium, aber man ist keine Tageszeitung, kein Blog und auch kein Fernsehprogramm. Ich glaube jedenfalls das Gegenteil: dass die Kunst durch die aktuelle Situation nicht in die Defensive kommt, sondern ein zentrales Instrument ist für die Beantwortung der heute wichtigsten Frage, wie wir auf dieser Welt in Zukunft zusammenleben werden.
Nun wird demnächst eine Ausstellung in der Kunsthalle Wien eröffnet, die sie als Kurator konzipiert haben: „Politischer Populismus“.
23 Künstlerinnen, Künstler und Künstlergruppen sind beteiligt. Es ist ein sehr kritisches, thematisches Projekt zu erwarten.
Kunst habe ich immer politisch betrachtet, und was mich vermutlich am meisten an Kunst interessiert, ist der gesellschaftliche Mehrwert, abseits von Art-for-Arts-sake.
Warum spricht man, glauben Sie, immer noch schönfärberisch von Populismus, obwohl damit zumeist eine sehr rechte, manchmal sogar faschistoide Gemengelage gemeint ist?
Ich stimme Ihnen nicht zu, dass Populismus im Jahr 2015 nur etwas mit rechter Ideologie zu tun hat, es gibt auch Linkspopulisten. Aber wir müssen neue Definitionen jenseits solcher Kategorisierungen finden. Das Thema insgesamt interessiert mich schon lange. Ich habe zum Beispiel vor zehn Jahren eine Ausstellung und Publikationen im Auftrag des Nordic Institute for Contemporary Art verantwortet, ein internationales Projekt, das dann in Oslo, Vilnius und Amsterdam in verschiedenen Museen stattgefunden hat. Es war damals an der Zeit, ein direktes Statement abzugeben zur Situation in Mitteleuropa, insbesondere vor dem Hintergrund dieser rechts stehenden schwarz-blauen Regierungskoalition in Österreich; außerdem war Jörg Haider immer so ein typisches Beispiel für einen populistischen Politiker. Überhaupt bin ich gelegentlich verwundert, was in Österreich alles gesagt werden kann, ohne jetzt in so ein typisches Klischee reinzufallen.
In Österreich gab es kein Re-Education Programm …
Vollständiger Artikel in der Printausgabe.